16
Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
Wunderheilers Grigorij Rasputin verdeutlichte die abson-
derliche Entrücktheit des Zarenhofs. Dessen Vertreter
hatten sich in ihrer unzeitgemäßen Weltsicht eingegraben
und bestanden unverbesserlich darauf, der politische Ori-
entierungsbedarf der Untertanen möge allein am Glanz
der sich selbst repräsentierenden Autokratie Genüge fin-
den.
46
Die mangelnde Synchronie der Veränderungen und
die Zerrissenheit des Landes
Während Gesellschaft und Wirtschaft im verspäteten,
aber doch unaufhörlich voranschreitenden Aufbruch in
die Moderne in Bewegung gerieten, befand sich die wei-
terhin verfassungslose Autokratie kaum mehr im Einklang
mit den großen Tendenzen der Zeit. Mächtige Behar-
rungskräfte ließen das zarische Regime in seinen längst
überkommenen Strukturen erstarren. „Das neue Russland
der Industrie geriet in Konflikt mit dem alten Russland
des Zarenhofes.“
47
Aus der Gleichzeitigkeit des sozioöko-
nomischen Vorwärtsdrangs und der Stagnation der politi-
schen Ordnung entwickelten sich erhebliche Spannungs-
und Sprengkräfte, deren Explosion nach 1905 schließlich
den Untergang der Zarenmacht heraufbeschwor. Die
Russischen Revolutionen schlugen nicht plötzlich wie ein
Blitz in versteinerte Zustände ein; diese Erschütterungen
und Umwälzungen hatten sich angesichts wachsenden
gesellschaftlichen Unmuts, fortgesetzten politischen Ver-
sagens und der Zunahme unterschiedlicher Proteste sowie
kollektiver Gewalt schon vorher abgezeichnet.
Das bedeutet freilich nicht, dass die Zarenmacht zum
Untergang und die Russischen Revolutionen unausweich-
lich gewesen wären. Die Weisheit des Nachwissens darf
Historiker keineswegs dazu verleiten, über die Offen-
heit historischer Situationen hinwegzusehen und mög-
liche Wendepunkte zu ignorieren, an denen sich weite
Zukunftsräume auftaten, die sich erst durch die Entschei-
dungen der Akteure sodann sukzessive verengten. Wer auf
die Erfahrungen und Erwartungen der Zeitgenossen aller-
dings eingeht, erkennt schnell, dass nicht wenige damals
wegen der „mangelnden Synchronie der Veränderungen“
48
eine bedrohlich erscheinende, krisenhafte Konzentration
gesellschaftlicher Brandherde und die Verdichtung sowie
Bündelung desintegrativer Prozesse feststellten. So erhielt
46 Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revo-
lution 1891 bis 1924, Berlin 2001, S. 23–52.
47 Ebd., S. 32.
48 Manfred Hildermeier: Russische Revolution, Frankfurt am Main 2004, S. 9.
Nikolaj II. 1902 vom damals schon weltberühmten, aller-
dings in Russland polizeilich überwachten und von der
Kirche zensierten Schriftsteller Lev Tolstoj (1828–1910)
einen aufrüttelnden Brief, in dem der tief besorgte Literat
den alarmierenden Zustand des Landes beschrieb und die
Weltfremdheit des Zaren kritisierte:
„Ein Drittel Russlands befindet sich im Zustand ver-
schärfter Überwachung, das heißt außerhalb des Geset-
zes. Die Armee der Polizisten – der öffentlichen und der
geheimen – vergrößert sich ständig. Die Gefängnisse, die
Orte der Verbannung und der Sträflingsarbeit sind neben
hunderttausenden Krimineller mit politischen Häftlin-
gen überfüllt, zu denen jetzt auch die Arbeiter gerechnet
werden. Die Zensur hat eine Unsinnigkeit der Verbote
erreicht, wie es in der schlimmsten Zeit der vierziger
(1840er Jahre – K.G.) nicht der Fall gewesen war. Die religiö
sen Hetzjagden sind nie so häufig und grausam gewesen
wie jetzt, und sie werden immer grausamer und häufiger.
Überall in den Städten und Fabrikzentren sind Trup-
pen konzentriert, und sie werden mit scharfer Munition
gegen das Volk ausgeschickt. An vielen Orten ist es schon
zu brudermörderischem Blutvergießen gekommen, und
neues und noch grausameres Blutvergießen wird überall
vorbereitet und wird unweigerlich stattfinden […]. Der
Absolutismus ist eine überlebte Regierungsform, die viel-
Maksim Gor’kij und Lev Tolstoj auf dem Gut Jasnaja Poljana, Oktober 1900
Foto: sz-photo