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Der Russische Revolutionszyklus 1905–1932

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Ihr Besitz wurde anschließend auf die sich daraus bilden-

den Kleinfamilien aufgeteilt, die sodann bemüht waren,

mit weniger Arbeitskräften, aber auch weniger Land ihr

Auskommen zu erwirtschaften. Das gleichmäßig verteilte

Erbe erwies sich oftmals als gute Starthilfe, garantierte

für sich genommen aber keinen Reichtum. Die Sozial­

hierarchie im Dorf blieb fluide, weil sie weiterhin nicht

von klaren Grenzziehungen in Arm und Reich, sondern

vom Wachstumszyklus der Familie in kleine und große

Haushalte geprägt wurde. Angesichts dieser Egalisierungs-

mechanismen erodierte der soziale Zusammenhalt der

Bauerngesellschaft noch nicht.

Dem zarischen Staat diente die Dorfgemeinde sowohl als

fiskalisches Instrument, damit die Bauern ihren Beitrag

zum Staatshaushalt erbrachten und ihre Ablösezahlungen

an den Adel entrichteten, als auch als unterste Verwal-

tungseinheit und Garant sozialer Stabilität. Die Gemeinde

war dafür verantwortlich, die Arbeits- und Lebensweise im

Dorf so zu organisieren, dass es so wenig Unruhe, Gewalt­

exzesse und Kriminalität wie möglich gab. Das dörfliche

Miteinander regelte ein althergebrachtes Gewohnheits-

recht; die bäuerliche (nicht selten rabiate) Selbstjustiz war

weit verbreitet. In Zeiten allgemeiner Aufruhr koordi-

nierte die Dorfgemeinde allerdings häufig auch bäuerliche

Widerstandsaktionen und erschien damit den Mächtigen

gleichsam als Hort von Protest und Gewalt.

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Trotz des harten agrarischen Verdrängungswettbewerbs

und der wachsenden Kritik an den als ungerecht empfun-

denen Agrarverhältnissen wüteten die aufgebrachten Bau-

ern lange Zeit nicht gegen den Zaren, sondern vor allem

gegen diejenigen (Adlige, Staatsbeamte, Wucherer, Unter-

nehmer, Aufkäufer, etc.), von denen sie meinten, dass Not

und Unterdrückung von ihnen kämen. Die paternalistische

Emotion und Tradition verhalf dem Kaiser in Petersburg

noch zu einem zentralen Platz im bäuerlichen Weltbild. Als

von Gott gesandt schien er über jegliche irdische Zudring-

lichkeit und Fehlbarkeit erhaben. Dieser der politischen

Wirklichkeit entrückte Zarenmythos bildete das spirituell

angehauchte, paternalistische Fundament der russischen

Autokratie und erklärte trotz sich zuspitzender Desintegra-

tionsprozesse deren Beharrungsvermögen und Überlebens-

fähigkeit. Allerdings zeichnete sich schon vor 1905 ab, dass

der Zarenmythos als bindende Kraft zwischen Regime und

Bevölkerung sowie loyalitätsgenerierende Legitimations-

quelle bald an Wirksamkeit verlieren sollte.

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Gemessen an den allgemeinen sozioökonomischen Ent-

wicklungstrends, kann nach 1861 sowohl von einer fort-

schreitenden Verelendung der russischen Bauern als auch

von einer agrarischen Dauerkrise und vom Zerfall der tra-

ditionellen Dorfordnung keine Rede sein. Vielerorts zeigten

sich zahlreiche bäuerliche Familienwirtschaften in der Lage,

erfolgreich auf die sich wandelnden Agrarstrukturen und

neuen Marktbeziehungen zu reagieren. Die Anpassungs-

fähigkeit des russischen Dorfs an moderne Vorgänge und

65 Mironov (wie Anm. 63), S. 286–370; Roger Bartlett (Hg.): Land Commune

and Peasant Community in Russia. Communal Forms in Imperial and Early

Soviet Society, New York 1990; Christine Worobec: Peasant Russia, Family

and Community in the Post-Emancipation Period, Princeton 1991.

66 Geyer (wie Anm. 31), S. 37. Ausführlich dazu Daniel Field: Rebels in the

Name of the Tsar, Boston 1976.

Kinderzahlen wie die dieser achtköpfigen Bauernfamilie waren keine Aus-

nahme um 1900.

Foto: sz photo/Imagno/Austrian Archives

„Nur zwei Dinge auf Erden sind uns ganz sicher: der Tod und die Steuer.“

Diese Aussage des amerikanischen Gründervaters Benjamin Franklin galt

auch für das ländliche Russland.

Abbildung: interfoto/Sammlung Rauch