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Kooperation und Konfrontation
Einsichten und Perspektiven 3 | 15
marer Regierungsverhältnisse hatte jedoch in der mangeln-
den Fähigkeit zum politischen Kompromiss und zu echter
Zusammenarbeit der politischen Kräfte über Parteigrenzen
hinweg bestanden. Insbesondere zwischen den bürgerlich-
konservativen Parteien und der SPD, die für das Trauma
der Revolution von 1918 verantwortlich gemacht wurde,
hatte ein ideologischer Stellungskrieg geherrscht. Auch die
Bindung zwischen der Regierung und den sie tragenden
Fraktionen war eher lose gewesen, was sich unter anderem
darin äußerte, dass im Reichstag selbst Koalitionsfraktionen
gegen die eigene Regierung stimmten.
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Das bayerische Regierungssystem
In Verkennung dieser Zusammenhänge planten CSU
und SPD 1946 unter Anleitung Nawiaskys zunächst,
eine feste Regierung auf Zeit zu installieren, die – einmal
gewählt – während der gesamten Legislaturperiode über-
haupt nicht mehr hätte entfernt werden können. Da dies
die Rechte des Landtags über Gebühr beschnitten hätte,
akzeptierten die Vertreter der beiden großen Parteien den
Kunstgriff Nawiaskys, dass der Ministerpräsident zurück-
treten müsse, wenn er das Vertrauen des Landtags verloren
habe. Wann diese Rücktrittspflicht als eingetreten zu gel-
ten habe und wer darüber zu befinden habe, wurde nicht
definiert. Die Verfassungswirklichkeit sollte so flexibel wie
möglich bleiben. Klar war nur, dass – sofern ein Minister-
präsident trotz Vertrauensverlusts nicht zurücktreten oder
ein Regierungsmitglied vorsätzlich gegen ein Gesetz oder
die Verfassung verstoßen würde – als letztes Machtmittel
des Landtags die Ministeranklage vor dem Verfassungs-
gerichtshof möglich ist.
Zum überzeugten Anwalt dieses bayerischen Regie-
rungssystems schwang sich der spätere Ministerpräsident
Hans Ehard (CSU) auf. Das Misstrauensvotum diskredi-
tierte er als denkbar „primitivste“ Form, den Ministerprä-
sidenten per einfachen Beschluss, der zudem durch eine
zufällige Mehrheit zustande kommen könnte, zum Rück-
tritt zu zwingen. Er argumentierte, dass ein missliebiger
Regierungschef auch auf anderem Weg zum Amtsverzicht
gedrängt werden könne – der Landtag müsse ihn nur
„aushungern“, indem er ihm die Zustimmung zu seinen
Vorlagen, etwa dem Staatshaushalt, verweigere.
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Dass dies
einer Zumutung gleichkommt und die Staatsverwaltung
in unverantwortlicher Weise lähmen kann, spielte bei die-
ser Strategie keine Rolle.
In der Praxis führte die Abschaffung des Misstrauens-
votums zur Verunklarung der Verhältnisse. Im Landtag
kam es zu scharfen Diskussionen. Der FDP-Fraktions-
vorsitzende Otto Bezold brachte es auf den Punkt: Regie-
rungsmitglieder genössen in Bayern eine „außerordent-
lich angenehme Stellung“, da sie vom Landtag praktisch
nicht aus dem Amt entfernt werden könnten, wenn sich
der Ministerpräsident schützend vor sie stellte. Über das
Recht, ein Regierungsmitglied zum Rücktritt zu zwingen,
müsse ein Parlament jedoch unbedingt verfügen.
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Auch
aus diesem Grund sah der Landtag in seiner Geschäftsord-
nung von 1954 die Möglichkeit vor, Anträge zu stellen,
die darauf abzielten, die Voraussetzungen für die Rück-
trittsverpflichtung des Ministerpräsidenten nach Art. 44
Abs. 3 Satz 2 BV als gegeben anzuerkennen. Doch da
entsprechende Beschlüsse in ihrer Intention einem – ja
gerade nicht vorgesehenen – Misstrauensvotum gleichge-
kommen wären, durften auch sie nicht die unmittelbare
Rücktrittspflicht zur Konsequenz haben. Sie waren „nur“
dazu gedacht, dem Ministerpräsidenten den Vertrauens-
verlust klar vor Augen zu führen.
Schwierige Regierungsbildungen
Bei der Regierungsbildung ergaben sich bis Mitte der
1950er Jahre erhebliche Schwierigkeiten. Gleich die erste
Legislaturperiode eröffnete mit einem Paukenschlag: Am
21. Dezember 1946 scheiterte die Wahl Josef Müllers zum
Ministerpräsidenten. Der liberal eingestellte CSU-Par-
teivorsitzende war zwar der einzig nominierte Kandidat,
ihm fehlte jedoch die Unterstützung des konservativen
Flügels der eigenen Fraktion, der sich hinter Alois Hund-
hammer scharte. Der Fraktionsvorsitzende hatte es Müller
nicht verziehen, dass dieser bei den Verfassungsberatun-
gen die Einführung des Amts eines Bayerischen Staats-
präsidenten verhindert hatte.
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Nun vereitelte Hundham-
mer die Wahl seines politischen Intimfeinds zum Chef
der Regierung. Gewählt wurde mit Hans Ehard (CSU)
schließlich ein Kompromisskandidat, der auch der SPD
vermittelbar war. Hundhammer und der SPD-Landesvor-
sitzende Wilhelm Hoegner meinten, mit ihm einen leicht
7 Vgl. Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik (=Oldenbourg Grundriss der
Geschichte, 16), München 2012, S. 185.
8 Karl-Ulrich Gelberg (Einleitung u. Kommentar): Die Protokolle des Vorberei-
tenden Verfassungsausschusses in Bayern 1946 (=Quellentexte zur bayeri-
schen Geschichte, 3), München 2004, 7. Sitzung, 03.04.1946, S. 155.
9 Bayerischer Landtag (Hg.): Verhandlungen des Bayerischen Landtags.
Stenographische Berichte 1950/54, Bd. 6, München 1954, 187. Sitzung,
11.03.1954, S. 967.
10 Zum Staatspräsidentenstreit vgl. Thomas Schlemmer: Aufbruch, Krise und
Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955 (=Quellen und
Darstellungen zur Zeitgeschichte, 41), München 1998, S. 128–148.