Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 50

Atomgemeinschaft (EURATOM) zielten auf horizontale
Integration, die in den Römischen Verträgen vom 25. März
1957 ihren Ausdruck fand, die am 1. Januar 1958 in Kraft
traten. Die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und die Be-
nelux-Staaten hatten sich Wirtschaftswachstum, Steigerung
des Lebensstandards und einen immer engeren politischen
Zusammenschluss als Fernziele, den Abbau der Binnenzöl-
le, die Schaffung einer Zollunion, freien Warenverkehr und
Beseitigung mengenmäßiger Beschränkungen als Nahziele
gesteckt. Daneben waren gemeinsame Landwirtschafts-,
Verkehrs- und Wettbewerbspolitik beabsichtigt sowie die
Angleichung innerstaatlicher Rechtsvorschriften. Die Be-
seitigung der Binnenzölle, Grenzkontrollen und Wettbe-
werbsverzerrungen für einen „gemeinsamenMarkt“ wie die
Koordinierung der Außenhandels-, Finanz- und Wäh-
rungspolitik sollten den Produktivitätsrückstand Europas
verringern, zu einer aktiveren Industriepolitik führen und
die Anpassung an den sozialen Wandel ermöglichen. Die
weitreichenden Ziele konnten nur schrittweise erreicht, die
zentralen Anliegen (Abbau aller Binnenzölle und Grenz-
kontrollen sowie der Aufbau einer eigenen Währung) sogar
erst in den neunziger Jahren realisiert werden.
Die Jahre 1947–1957 bildeten jedenfalls ein Jahr-
zehnt der integrationspolitischen Formation mit französi-
schen Hindernissen. Ohne das kolonialpolitische Debakel
am Suezkanal 1956 wäre Frankreich nicht so rasch über sei-
nen eigenen Schatten gesprungen und hätte seine Einwilli-
gung zur engeren Kooperation mit dem „Erzfeind“ und
Hauptkriegsverlierer Deutschland kaum gegeben. Dessen
Teilung blieb politisch bestehen, während die Bundesrepu-
blik handels- und zollpolitisch dem EWG-Markt angehör-
te. Während die Integration von Handel und Wirtschaft
voranschritt, blieb die der Atomenergie im Schatten der
EWG. Rationalität herrschte in dieser ersten Dekade euro-
päischer Integration in der beabsichtigten Teilung, Kon-
trolle und Einbindung Deutschlands und der Etablierung
der sozialen Marktwirtschaft auf westeuropäischer Ebene.
Konsolidierung und Norderweiterung: Inte-
grationsdissens inWesteuropa 1958–1973
Die Entstehung der EFTA als Stiefschwester der
EWG 1958–1960
Der „gemeinsame Markt“ der Sechsergemeinschaft entwik-
kelte sich alsbald zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschich-
te, präjudizierte aber auch die handelspolitische Teilung
Westeuropas. Die „
non six
“ mussten reagieren: Am 20. No-
vember 1959 erfolgte die Paraphierung der Stockholmer
Konvention der
European Free Trade Association
(EFTA).
Damit hatte sich ein zweiter Wirtschaftsraum mit Däne-
mark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal,
Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013
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Schweden und der Schweiz – Finnland wurde später asso-
ziiert – gebildet, der nach Unterzeichnung am 4. Januar am
3. Mai 1960 in Kraft trat. Die EFTA war mangels Alterna-
tive nur ein Ersatz für die exklusive EWG, der die neutra-
len Staaten nicht beitreten konnten oder wollten. Sie war
nach der französischen Ablehnung des britischen Vor-
schlags über eine Große Freihandelszone in Europa eine
rein intergouvernementale Organisation unter Beibehal-
tung der verschiedenen nationalen Außenzölle und der Sou-
veränität der Mitgliedstaaten, während die EWG-Staaten
ihren „festen Willen“ kundtaten, einen „immer engeren po-
litischen Zusammenschluss der europäischen Völker zu
schaffen“.
Die Europäischen Gemeinschaften: ein Fusions-
produkt der Organe
Bei der EWG kam es zu ökonomischen Fortschritten und
politischen Rückschlägen. Am 1. Januar 1959 wurden die
Zölle erstmals um zehn Prozent gesenkt, um dann schritt-
weise gänzlich beseitigt zu werden. Parallel dazu konnte ein
gemeinsamer Außenzoll aufgebaut werden. In den multila-
teralen GATT-Zollverhandlungen im Rahmen der „Kenne-
dy-Runde“ senkte die EWG ihren Außenzoll je nach Er-
zeugnissen (mit Ausnahme der Agrarprodukte) um 35 bis
40 Prozent. Diese Verhandlungen fanden ihren Abschluss
am 30. Juni 1967. Die Krise der Politik des „leeren Stuhles“,
praktiziert von Charles de Gaulle – der ein halbes Jahr un-
ter anderem wegen der strittigen Frage der Agrarfinanzie-
rung Entscheidungen imMinisterrat (MR) blockiert hatte –,
endete mit der Festschreibung der Vetomöglichkeit bei
wichtigen nationalen Interessen im „Luxemburger Kom-
promiss“ 1966 und mit der Aufschiebung und Infragestel-
lung der Einführung von Mehrheitsentscheidungen. Am
1. Juli 1967 trat der „Fusionsvertrag“ von 1965 in Kraft, der
die Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemein-
samen Kommission vorsah. Die Teilgemeinschaften EGKS,
EWG und EURATOM bildeten auf Basis der existierenden
Verträge fortan die EG. Am 1. Juli 1968, 18 Monate früher
als in den Römischen Verträgen vorgesehen, trat die Zoll-
union in Kraft. Die Binnenzölle waren damit abgeschafft
und ein gemeinsamer Außenzolltarif für den Handel mit
Drittstaaten eingeführt. Die Regelung der Landwirtschafts-
politik blieb aber ein gravierendes Problem: Sie verschlang
über die Hälfte des gemeinsamen Haushalts.
Die EWG der sechziger Jahre bewegte sich im
Schatten der nationalen Politik de Gaulles, der mit ihrer
Hilfe die französische Hegemonie auf dem Kontinent und
den Ausschluss Großbritanniens aus der EG zu perpetuie-
ren versuchte. Es war ein Jahrzehnt der handels- und zoll-
politischen Integrationsfortschritte und der supranationali-
tätspolitischen Stagnation.
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