Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 51

Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013
Einsichten und Perspektiven 3 | 13
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Die „Norderweiterung“ mit Großbritannien als
widerspenstiges
„Opting-out“
-Mitglied
Die EG-Staats- und -Regierungschefs waren sich der Not-
wendigkeit neuer Initiativen bewusst, hatte doch Kommis-
sionspräsident Walter Hallstein die Integration mit einem
Fahrrad verglichen, das stehen bleiben und umfallen werde,
wenn man nicht ständig strampele. Nach einer durchwach-
senen Phase (1958-1968) bedeutete der Haager Gipfel vom
1. und 2. Dezember 1969 eine Zäsur, verbunden mit einem
neuen integrationspolitischen Aufbruch. Beschlossen wur-
de der vertragsmäßige Übergang zur Finalisierung der Rö-
mischen Verträge (Schaffung einer Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion, Stärkung der Gemeinschaftsorgane). Vor dem
Hintergrund der an Kaufkraft gewinnenden Deutschen
Mark und der steigenden Wirtschaftsmacht der Bundesre-
publik sah sich das Frankreich nach de Gaulle gezwungen,
eine zweite Kontrollmacht für Deutschland einzuschalten.
Das war einmal mehr eine politisch-rationale Entscheidung.
Aufgrund dessen wurde vor allem ein Durchbruch für
die „Norderweiterung“ erzielt, auch mit Blick auf eine effi-
zientere Koordinierung der politischen Zusammenarbeit.
Konsens konnte auch über die Finanzierung der gemeinsa-
men Agrarpolitik und die Stärkung der Befugnisse des Par-
laments erzielt werden. Die Beitrittsverhandlungen mit Dä-
nemark, Irland, Großbritannien und Norwegen wurden
1970 aufgenommen, was nach dem Rücktritt des erweite-
rungspolitisch widersetzlichen de Gaulle (28. April 1969)
unter der Regierung von Georges Pompidou möglich ge-
worden war. Die Beitrittsakte konnte am 22. Januar 1972
unterzeichnet werden. Die Aufnahme Norwegens scheiter-
te an einer ablehnenden Volksabstimmung (53 Prozent). Ab
1. Januar 1973 erhielten die Beitritte der drei neuen Länder
Rechtskraft. Die EG wurde damit zur Neuner-Gemein-
schaft und verstärkt als internationaler Akteur wahrgenom-
men.
Mit den neutralen (Österreich, Schweden, Schweiz
und später Finnland) und den übrigen EFTA-Staaten (Por-
tugal, Island, Norwegen) schloss die EG bilaterale Freihan-
delsabkommen. Damit wurde der gemeinsame EG-Außen-
zolltarif für gewerblich-industrielle Produkte für diese Län-
der nicht mehr angewendet und eine Freihandelszone für
diese Warengruppen möglich. Die westeuropäische Han-
delsspaltung fand damit ein Ende. Nunmehr sah die EG
auch ihre weltpolitische Funktion.
Die Beitrittsverhandlungen der ersten Erweite-
rungsrunde (1961–1972) waren die langwierigsten und im
Falle Großbritanniens bisher auch die problematischsten.
De Gaulles Vorbehalte und Obstruktionen taten ein Übri-
ges, zumal die Briten fortlaufend Schwierigkeiten machten
– dies auch später hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft und Bei-
trittszahlungen. Diese Schwierigkeiten waren mit innenpo-
litischenKontroversen eng verknüpft. Die Frage des Anteils
am EG-Haushalt und des Mitgliedsbeitrags, aber auch die
Fischereipolitik schufen Konfliktpotenzial. 1974/75 muss-
ten die Beitrittsbedingungen neu verhandelt werden, was
die wiedergewählte Labour Party gefordert hatte. Im Juni
1975 stimmte die britische Bevölkerung in einer Volksbe-
fragung für den Verbleib in der EG. Großbritannien blieb
allerdings bis zuletzt ein schwieriger Partner (Rabattierung
der Beiträge, Fernstehen von der Sozialpolitik, Festhalten
an der nationalen Währung, Freistellung von der Grund-
rechte-Charta, Euroskeptizismus, verknüpft mit einer eige-
nen proamerikanischen Sicherheitspolitik), was in leicht ab-
gewandelter Form auch auf Dänemark zutraf. Die norwe-
gischen Verhandlungen zeigten, dass ein Beitritt nicht
möglich ist, wenn er auf einem fragilen und schwachen in-
nenpolitischen Konsens aufbaut. Das Beispiel Norwegen
zeigt aber auch, dass ein wirtschaftlich wohlhabendes und
exportstarkes Land die EU-Vollmitgliedschaft gar nicht nö-
tig hat, was auch für die ökonomisch unabhängige Schweiz
zutrifft.
Verrechtlichung, Direktwahlen,Währungs-
system und „Süderweiterung“ 1975–1985
Eurosklerose?
Mitte der siebziger Jahre war die Situation in Europa durch
zunehmende Arbeitslosigkeit, Verlangsamung des Wachs-
tums und Krisen in diversen Branchen, etwa in der Textil-,
vor allem aber in der Eisen- und Stahlindustrie, gekenn-
zeichnet. Die in der EG aufgrund von Währungs-, Energie-
und Wirtschaftskrisen in den siebziger Jahren vorherr-
schende Gefühlslage der integrationspolitischen Stagnation
wird immer wieder vereinfachend mit „Eurosklerose“ be-
zeichnet, was aber dieses Jahrzehnt gemeinschaftspolitisch
und -rechtlich nicht zutreffend charakterisiert. In der tur-
bulentesten Nachkriegsphase mit demZusammenbruch des
internationalen Währungssystems, dem eskalierenden Viet-
nam-Krieg und dem virulenter gewordenen internationalen
Terrorismus konnte in Europa mit der KSZE-Schlussakte
(1975) der Entspannungsprozess zwischen Ost und West
eingeleitet werden und die EG-Staaten ihren Zusammenhalt
unter Beweis stellen. Es war ein Jahrzehnt der Bewährung
und der Kräftekonzentration für einen integrationspoliti-
schen Neuanlauf. Der „Werner-Ausschuss“, benannt nach
dem luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner,
arbeitete bereits einen Stufenplan für eine Währungsunion
aus, der dann zehn Jahre später wieder aufgegriffen und
ein weiteres Jahrzehnt später realisiert werden sollte. Der
Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte gerade von den
sechziger bis zu den achtziger Jahren in einer Zeit des ver-
meintlichen Integrationsstillstands durch eine Vielzahl von
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