Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 3/13) - page 58

Der Präsident des Europäischen Konvents, Giscard D’Estaing,
mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder
Foto: ullstein bild – BPA
im Zeichen der Erweiterung eine rational zwingende Ent-
scheidung war. Am 1. Januar 2007 wurden Bulgarien und
Rumänien als neue Mitglieder der nunmehrigen EU-27 auf-
genommen – an der euroskeptischen und ablehnenden
Grundstimmung seitens der Bevölkerungen gegen weitere
Neuaufnahmen vorbei. Das war Ausdruck eines Auflebens
der pragmatisch-rationalistischen Methode Monnets aus
den fünfziger Jahren: Elitenkonsens, Verhandlungen hinter
den Kulissen, deutsch-französisches Einvernehmen und
Entscheidungen von oben – ohne Einbeziehung der Bevöl-
kerungen. Wie lange aber wird diese Methode noch durch-
führbar sein?
Die Zeitspanne von Mitte der neunziger Jahre bis
2007 war eine Zeit der Ernte und Erträge der eingeleiteten
Politik der Vordekade (Euro-Einführung, „Osterweite-
rung“ und ein immerhin beschlossener „Verfassungsver-
trag“ mit dem Versuch einer EU-Institutionenreform), aber
durch die Negativ-Referenden in Frankreich und den Nie-
derlanden erhielt die Integrationspolitik einen schweren
Dämpfer. Ausgerechnet in zwei Gründungsstaaten schlug
der EU fundamentale Ablehnung entgegen, was aber im
Lichte des 30. August 1954 und der Politik de Gaulles
1965/66 keine Neuigkeit war. Rückschläge und Krisen hat
es in der Geschichte der europäischen Integration immer ge-
geben. Davon lebte auch der Fortschritt der Gemeinschaf-
ten wie der Union.
Europas Krise – eine Krise der National-
staaten: Zusammenfassung und Ausblick
auf die jüngste Entwicklung 2008–2013
EU-Europa bleibt trotz oder gerade wegen der Rationalität
und Synergetik seiner Einigungsdynamik ein Integrations-
Die Rationalität der Etappen europäischer Integration 1939–2013
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raum mit verschiedenen Geschwindigkeiten und konzen-
trischen Kreisen, das heißt mit abnehmendem Integrations-
gefälle an den Rändern, aber von nach wie vor anhaltender
Attraktivität für die Außenwelt. Von 1995 bis 2004/07 hat
sich die Mitgliederzahl der EU fast verdoppelt (von 15 auf
27). Mit seinen gut 500 Millionen Einwohnern ist EU-
Europa heute einer der größten Wirtschaftsräume mit sehr
hoher Produktivität und starker Exportleistung. Doch kann
der Markt nicht alles sein, wie auch die Integration nicht un-
begrenzt voranschreiten wird. Nach wie vor ist nationaler
Eigensinn dominanter und wichtiger als europäischer Bür-
gersinn. Mit Blick auf neue Aspiranten ist die Aufnahmefä-
higkeit der EU auch an Grenzen angelangt. Abgesehen von
ökonomischer Rückständigkeit und kultureller Überforde-
rung durch neue Beitrittsbewerber, sind es demokratiepoli-
tische, grund- und menschenrechtliche sowie rechtsstaatli-
che Inkompatibilitäten, die sich schon in der unmittelbaren
Nachbarschaft der Union in dramatischer Weise auftun.
Von der Montanunion bis zum Lissabon-Vertrag
ist Europas Einigung ein Produkt von Krisen gewesen.
„Gründervater“ Jean Monnet nannte sie „die großen Eini-
ger“. Entgegen der landläufigen Vorstellung handelt es sich
hier um ein anderes Verständnis von Krisen, wonach deren
Bewältigung produktives Potenzial entfaltet. Europäische
Krisen gab es im Kalten Krieg (wie die Berlin-Blockade
1948/49) oder durch gescheiterte Rekolonisierung (bei-
spielsweise in der Suezkrise 1956). Innergemeinschaftliche
Krisen entstanden durch das Scheitern der Europaarmee
1954, den „leeren Stuhl“ de Gaulles im EWG-Ministerrat
1965 oder mit den Ratifikationsproblemen der Verträge von
Maastricht 1993 bis Lissabon 2009. Die externen Krisen wa-
ren dabei förderlicher als die innergemeinschaftlichen, doch
konnte Europa beide stets als Chance nutzen: Schulter-
schluss mit demWesten, Konzentration auf die Formierung
der Kräfte auf dem Kontinent, Fortschreiten der ökonomi-
schen anstatt der politisch-militärischen Integration, Ein-
führung von Mehrheitsentscheidungen im Rat, Konver-
genzsteigerung von Gemeinschaftsrecht, Einbeziehung der
Grundrechte in die Verträge und Schaffung des Binnen-
markts mit Einheitswährung. Doch hat die Entwicklung der
letzten Jahre Zweifel an der Auffassung Monnets genährt.
Waren die historischen Erweiterungen stets mit Vertiefung
verbunden, so kann seit der „
Big Bang
“-Erweiterung
2004/07 von 15 auf 27 neue EU-Mitglieder davon nicht
mehr die Rede sein. Die EU setzte damit ihre innere Balan-
ce aufs Spiel und verlor an Handlungsfähigkeit.
Es bereiten nun vor allem Krisen Sorge, deren Be-
wältigung über die Kompetenzen und Mittel der EU hin-
auszugehen drohen. Die Weltwirtschaftskrise wirkte ab
1929 mit der „Großen Depression“ negativ auf alle euro-
päischen Integrationsversuche, wie auf den politischen Ei-
nigungsplan des französischen Ministerpräsidenten Briand
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