2 Was ist Lesekompetenz?
17
2.1
Lesen als kognitiver Prozess
Lesefertigkeit und Lesefähigkeit
Lesekompetenz im engeren Sinne setzt sich aus einer Vielzahl unterschiedli-
cher Prozesse zusammen, die aufeinander aufbauen und im Unterricht aller
Fächer und Schularten trainiert werden müssen.
Dabei ist zwischen
hierarchieniedrigen und hierarchiehohen Prozessen
zu unterscheiden. Die hierarchieniedrige Lesefertigkeit meint das exakte und
automatisierte Dekodieren von Wörtern und kurzen Sätzen (sogenannten Pro-
positionen) in angemessener Lesegeschwindigkeit und mit sinngemäßer Be-
tonung (vgl. Rosebrock et al., 2011, S. 19 f.), kurz
Leseflüssigkeit
(fluency)
genannt.
Sobald diese Prozesse automatisiert ablaufen, kann die hierarchiehöhere Le-
sefähigkeit, das Leseverstehen, trainiert werden. Diese beinhaltet zum Beispiel
den Umgang mit Verständnisschwierigkeiten oder Schlussfolgerungen aus
dem Gelesenen. Sie ist beim Lesen umfangreicherer Texte entscheidend und
wird von der/dem Lesenden zum Teil bewusst gesteuert.
Während die Leseflüssigkeit v.a. in der Grundschulzeit und am Anfang der Se-
kundarstufe 1 trainiert wird, ist das Leseverstehen über die gesamte Schulzeit
hinweg zu schulen (vgl. 5.2 und 5.3).
2.1.1 Lesefertigkeit und -flüssigkeit
(fluency)
Vor dem Hintergrund der Entwicklungspsychologie vollzieht sich die idealtypi-
sche
Leseentwicklung
(vgl. Hoppe/Schwenke, 2013, S. 8–10) in drei Schrit-
ten (Schritte 2–4), nach Ratz (vgl. 1.2, Kompetenzmodell) kann diese Abfolge
um eine vorausgehende vierte Etappe (Schritt 1) ergänzt werden:
1. Schritt: Präliteral-symbolische Strategie
Zu Beginn der Leseentwicklung werden Bilder, ikonische Zeichen und Symbole
als bedeutungshaltig erkannt und ihre Aussagen entschlüsselt.
2. Schritt: Logografische Strategie
Auf der zweiten Stufe der Leseentwicklung werden Wörter ganzheitlich er-
kannt, ohne dass sie vollständig erlesen werden. Dies geschieht v. a. bei be-
kannten Namen und Texten.
3. Schritt: Alphabetische Strategie
Im dritten Schritt folgt die Erkenntnis, dass jedem Laut ein Graphem zugeord-
net werden kann. Anfangs wird synthetisierend, d. h. Buchstabe für Buchsta-
be, gelesen. Im weiteren Verlauf wird zu Silben zusammengefasst, dann diese
zu Wörtern.
4. Schritt: Orthografische Strategie
Schließlich werden häufig vorkommende Wortteile, Vorsilben sowie Endun-
gen, bestimmte Buchstabenkombinationen und kleine bekannte Wörter mit
einem Blick erkannt. Dies ermöglicht schnelles Lesen. Der Sichtwortschatz wird
trainiert und das Lesen erfolgt zunehmend automatisiert.
Leseflüssigkeit als
Voraussetzung für
Leseverstehen