ein eigenständiges Leben zu führen.
Die Jugendlichen im Alter von 15
bis 25 Jahren können in Waldwinkel
zwischen 28 Berufen aus den verschie–
densten Arbeitsbereichen wie Wirt–
schaft und Verwaltung, Metall-, Elektro-,
Holz- oder Textiltechnik bis hin zur
Agrarwirtschaft wählen. Die Ausbil–
dung in einem Berufsbildungswerk hat
dieselben Inhalte, dauert genauso
lang - nämlich zwei bis dreieinhalb
Jahre - und führt zu denselben Ab–
schlüssen wie in der freien Wirtschaft.
Wie behinderte Jugendliche diesen
mitunter hohen Anforderungen gerecht
werden können, erläutert Ausbildungs-
Mit Händen und Füßen
leiter Gerhard Hack: „Wir haben hier
alles auf einem Gelände vereint: In
der staatlich anerkannten Berufsschule
können die Jugendlichen in kleinen
Klassen von bis zu 14 Schülern indivi–
duell gefördert werden, im Internat
kümmern sich erfahrene Pädagogen
um ihre Betreuung." Eingebunden in
diese Arbeit sind auch der medizini–
sche, psychologische sowie der heil–
und sonderpädagogische Dienst. All
diese Betreuer stimmen bei regelmäßi–
gen Teambesprechungen ihre Arbeit
eng aufeinander ab. „Wir müssen nicht
primär auf die Wirtschaftlichkeit unse–
rer Produktion achten", so der Ausbil–
- dungsleiter. „Bei uns steht die Förde-
rung jedes Einzelnen im Vordergrund."
Diesem Ziel einer ganzheitlichen
Förderung kann das momentan lau–
fende deutsch-französische Austausch–
projekt in besonderem Maße dienen.
Denn es ermöglicht den Jugendlichen,
die sonst wenig Gelegenheit dazu
hätten, mit gleichaltrigen Ausländern
und einer fremden Kultur in Kontakt zu
kommen. Diese Erfahrungen aber tra–
gen dazu bei, Schlüsselqualifikationen
wie Fähigkeit zur Teamarbeit, soziale
Kompetenz und vor allem die Kommu–
nikationsfähigkeit zu stärken.
Dass diese hehren Ziele nicht nur
auf dem Papier stehen, sondern auch
lebendige Wirklichkeit werden, er–
fährt man, wenn man die jungen Leu–
te in den Werkstätten und in der Be–
rufsschule bei der gemeinsamen Ar–
beit erlebt. „Wir reden mit Händen
und Füßen, hier ein paar Brocken
Englisch, da ein paar gerade erst ge–
lernte französische Wörter", meint der
Elektrotechniklehrling Bert. „Ich zeige
Joel die Lötstelle auf der Zeichnung, er
versteht sofort und führt es richtig
aus." Die Kommunikation fast ohne
Worte funktioniert perfekt. „Die Sprach–
fähigkeiten unserer Jugendlichen im
Allgemeinen, auch in der eigenen
Muttersprache, sind sicher einge–
schränkt", gibt Christine Hamp zu be–
denken. „Aber bei diesem Projekt
steht auch nicht in erster Linie die Ver–
mittlung von Kenntnissen in der Fremd–
sprache im Vordergrund, sondern der
gegenseitige Austausch. Das Wich–
tigste ist, dass die jungen Leute zu–
sammen arbeiten und ihre Ängste
dem fremden gegenüber verlieren."
Also kein theoretisches Pauken von
Grammatik und Sprachlehre, sondern
ein 'Sprachsensibilisierungsprogramm',
wie es die Experten nennen. Dazu wur–
de den Deutschen und den Franzosen
vor Beginn des Austausches eine Art
'Überlebenswortschatz' mit den wich–
tigsten Begriffen für den täglichen Ge–
brauch vermittelt. Schon nach weni–
gen Tagen schnappten die jungen Leu–
te etliche Ausdrücke auf, auch wenn
sie damit so lustig klingende 'Misch–
sätze' bildeten wie: „Ich bin malade",
d.h. krank. Auch während des gemein–
samen Unterrichts in der Berufsschule
wurde das Kennenlernen der anderen
Sprache und des anderen Landes un–
terstützt, indem sich beide Seiten bei–
spielsweise ihr jeweiliges Schulsystem
vorstellten. Natürlich erfolgte auch fach–
theoretischer Unterricht mit Bezug auf
das Projekt: Fachrechnen und Messun–
gen am Oszilloskop im deutsch-franzö–
sischen Tandem. Ein Glossar mit Fach–
ausdrücken auf Deutsch und Franz&
sisch diente als Hilfe, doch häufig
sprach die technische Materie für sich.
Die Jugendlichen sind vom Projekt
auf der ganzen Linie begeistert. Simo–
ne fand es toll, bei der Arbeit an die–
sem Projekt „ein konkretes Endprodukt
vor Augen zu haben", statt nur Einzel–
arbeiten auszuführen. Herve war
ganz angetan von dem Empfang, der
ihnen von deutscher Seite bereitet
wurde. Ganz Nachfahre Ludwigs XIV.
gefielen ihm besonders die bayeri–
schen Schlösser. Den hohen Praxisan–
teil an der Ausbildung sah Arnaud
hingegen als großes Plus in Bayern.
„In Frankreich sind wir nur sieben
Stunden pro Woche in der Werkstatt,
während in Deutschland bis zu vier
Tagen Praxis vorgesehen sind."
Frankreich hat im Bereich der be–
ruflichen Ausbildung eine ganz ande–
re Tradition, es kennt das duale Sys–
tem - die parallele Ausbildung in Be–
rufsschule und Betrieb - nicht. Dort
besuchen die Schüler nach einer Art
Mittel- oder Gesamtschule das Lycee
professionnel, eine beruflich orientier–
te Schule, oder das Lycee technologi–
que, eine weiterführende Schule mit
technischem Zweig. Die einseitige Be–
tonung der Theorie ist jedoch wieder–
holt ins Kreuzfeuer der Kritik geraten,
muss sich Frankreich doch angesichts
einer enorm hohen Jugendarbeitslo–
sigkeit verschärft Gedanken über eine
effizientere Ausbildung machen.
Nach zwei intensiven Wochen in
Waldwinkel, in denen neben der Pro–
jektarbeit auch Besichtigungen und viel–
fältige gemeinsame Freizeitaktivitäten
auf dem Programm standen, ging es
wieder zurück nach Frankreich. An–
fang Mai konnten dann die jungen
Nichts Einmaliges
Leute aus Aschau die französische Art
der beruflichen Ausbildung vor Ort
hautnah erleben.
Der diesjährige Austausch soll nichts
Einmaliges bleiben; Waldwinkel strebt
als erstes bayerisches Berufsbildungs–
werk für die Zukunft eine langfristige
Zusammenarbeit an, in die auch an–
dere Berufsfelder einbezogen werden
sollen. Darüber hinaus wollen sich die
Fachkräfte beider Einrichtungen auch
über pädagogische Konzepte und die
Möglichkeiten der spezifischen Förde–
rung von Behinderten austauschen .
Es müssen ·also nicht immer große
und ehrgeizige Projekte sein, die
deutsch-französische Zusammenarbeit
lebendige Realität werden lassen.
Wichtig ist vor allem, dass sich Men–
schen aus beiden Nationen begegnen.
Wenn das, wie im Falle des Berufsbil–
dungswerkes Waldwinkel, behinderten
Menschen ermöglicht wird, die sonst
nicht im Mittelpunkt unserer Gesell–
schaft stehen, ist dies umso verdienst–
voller.
D
SCHULE
olctuell
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