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„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ – reloaded

Einsichten und Perspektiven 4 | 16

sen vermögen, wurde in einem letzten Forschungsschritt

die Darstellung von Muslimen und Nichtmuslimen in der

deutschen, türkischen und arabischen Berichterstattung

ausgewählter Fernsehsender zwischen Anfang 2009 und

Ende 2010 untersucht. Die Auswertung dieser Fernsehnach-

richten machte deutlich, dass und wie Integrations- und

Radikalisierungsprozesse durch mediale Einflüsse gefördert

oder verhindert werden können. In den untersuchten Bei-

trägen sticht insbesondere der türkische Privatsender Kanal

D durch eine sehr emotional geprägte Berichterstattung

hervor. Dies würde teilweise erklären, warum vor allem die

Präferenzen für türkische Sender (vor allem Kanal D/Euro

D) einen starken Einfluss auf die Akzeptanz ideologisch

fundierter Gruppengewalt der nichtdeutschen Muslime

auszuüben scheinen. Die deutschen öffentlich-rechtlichen

Fernsehsender spielen im Kontext der Integrationsdebatten

mithin eine durchaus positive Rolle. Die Familieninter-

views und Gruppendiskussionen zeigten allerdings, dass das

öffentlich-rechtliche Fernsehen die muslimische Bevölke-

rung Deutschlands kaum erreicht.

Die Ergebnisse der Studie bestätigen insgesamt, dass es

nach wie vor notwendig ist, gesellschaftliche Initiativen und

Maßnahmen zu realisieren, die den Aufbau einer positiven

bikulturellen Identität der Muslime erleichtern. Auf diese

Weise würde islamistischen Radikalisierungsprozessen vor-

gebeugt und Integrationsprozesse könnten befördert wer-

den. Und den Muslimen ginge es nicht mehr so, wie o.g. im

Interview: „Man ist so durcheinander zwischen den Wel-

ten“. Muslimische Zuwanderer in Deutschland sollen und

wollen die deutsche Lebenswelt mit ihren Gesetzen, For-

men des Zusammenlebens, ihrer Sprache sowie ihren Nor-

men des alltäglichen mitmenschlichen Umgangs anneh-

men. Allerdings muss ihnen auch die Freiheit zugestanden

werden, die deutsche Lebenswelt mit der Lebenswelt ihrer

Herkunftskultur zu verknüpfen. Letztendlich ist diese Inte-

gration ein wechselseitiger Prozess, der nur bei gemeinsa-

mem Engagement sowohl der Migranten als auch der deut-

schen Mehrheitsbevölkerung gelingen kann.

„Lebenswelten-Projekt“ – updated: Was fördert

islamistisch-fundamentalistische Überzeugungen

und Gewaltbereitschaft?

In einer im Sommer 2016 veröffentlichten repräsentativen

Umfrage,

11

an der rund 2.400 Bürgerinnen und Bürger teil-

nahmen, äußerten 73 Prozent der Befragten große Angst vor

11 R+V-Studie: Die Ängste der Deutschen 2016, in:

https://www.ruv.de/presse/

aengste-der-deutschen [Stand 17.09.2016].

Terrorismus. Die gefühlte Terrorbedrohung entspricht nicht

der tatsächlichen Bedrohungslage; dennoch ist Deutsch-

land Teil des dschihadistischen Netzwerks in Europa – als

logistische Drehscheibe und Rückzugsort. Nicht zuletzt die

Anschläge in Würzburg und Ansbach im Sommer 2016

haben das deutlich gemacht.

Spätestens seit 2008 ist Deutschland auch Herkunftsland

von Dschihadistinnen und Dschihadisten, die zunächst –

bis 2011 – in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet und

in jüngerer Zeit überwiegend in die Kriegsgebiete Syriens

oder Iraks ausreis(t)en.

12

Im aktuellen Bericht der Ständigen Konferenz der

Innenminister und -senatoren der Länder werden die

Fälle von 677 Personen, die aus Deutschland in Richtung

Syrien oder Irak ausgereist sein sollen, analysiert.

13

Davon

sollen bis zum 30. Juni 2015 insgesamt 237 Personen

nach Deutschland zurückgekehrt sein. Von den ausgereis-

ten Personen sind 21 Prozent Frauen. Mit 188 Personen

stellen die 22- bis 25-Jährigen die größte Altersgruppe.

14

Vor einigen Jahren kommentierte Peter Sloterdijk:

„… der sogenannte globale Terrorismus ist ein durch

und durch posthistorisches Phänomen. Seine Zeit bricht

an, wenn sich der Zorn der Ausgeschlossenen mit der

Infotainmentindustrie der Eingeschlossenen zu einem

Gewalttheatersystem für letzte Menschen verbindet“.

15

In

diesem Sinn ist der globale Terrorismus auf die Medien

angewiesen und bezieht sie in seine Strategie mit ein. Zu

einer Bekämpfung des Terrorismus stellt sich vorrangig

die Frage nach den apostrophierten „Ausgeschlossenen“

selbst: Wer sind sie, wovon sind sie ausgeschlossen, wer

hat sie ausgeschlossen und was ist die Quelle ihres Zorns?

Es reicht also nicht, nur nach individuellen Risiko-

merkmalen zu suchen und soziale Kontextfaktoren nur

am Rande zu berücksichtigen, wenn es um praktisch rele-

vante Erklärungen für die Radikalisierung salafistischer

Dschihadisten geht. Um konkret zu werden: Die Atten-

täter von Paris, Brüssel und Nizza sind in Frankreich oder

12 Wolfgang Frindte/Brahim Ben Slama/Nico Dietrich/Daniela Pisoiu/Milena

Uhlmann/Melanie Kausch: (2016). Wege in die Gewalt. Motivationen und

Karrieren salafistischer Dschihadisten. HSFK-Report, Nr. 1/2016 (HSFK-

Reportreihe „Salafismus in Deutschland“, hg. von Janusz Biene/Christo-

pher Daase/Svenja Gertheiss/Julian Junk/Harald Müller).

13 IMK (Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder):

Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die

aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder

Irak ausgereist sind.

14 Ebd., S. 11.

15 Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frank-

furt am Main 2006, S. 70.