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Mittler zwischen Ost und West?

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Erst die „Neue Ostpolitik“ unter Kanzler Willy Brandt

setzte ab 1969 neue Akzente. Die Bundesrepublik

befand sich damals mit ihrer Nichtanerkennung der

Nachkriegsrealität im Osten in einer Sackgasse, während

das Machtgleichgewicht zwischen den Blöcken eine Ent-

spannungspolitik erlaubte. Die sozialliberale Koalition

entwickelte in der Situation den Ansatz „Wandel durch

Annäherung“. Er ging davon aus, dass es politische, öko-

nomische und gesellschaftliche Annäherung brauchte,

um Wandel im deutsch-deutschen und im Ost-West-

Verhältnis anzustoßen. Die Regierung Brandt erkannte

die DDR staatsrechtlich an und verhandelte von 1970

bis 1973 mit der Sowjetunion, Polen, der DDR und der

ČSSR die sogenannten Ostverträge. Eingebettet in inter-

nationale Initiativen (1971 Viermächte-Abkommen; ab

1973 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in

Europa KSZE) bemühte sie sich in der Folge um Ver-

netzung, Verständigung und menschliche Erleichterun-

gen. Wirtschaftliche und finanzielle Anreize spielten

dabei eine wichtige Rolle. An ihrer Westbindung ließ die

Bundesrepublik aber keinen Zweifel: Sie versuchte aus

der festen Verankerung im Westen heraus die Beziehun-

gen nach Osten zu gestalten.

Der Prozess der Wiedervereinigung bekräftigte die

Überzeugung, dass es auch künftig keine Schaukelpolitik

geben durfte, aber Interessensvermittlung brauchte. Wäh-

rend die USA verlässlich an der Seite der Bundesrepublik

standen, sorgte man sich in einigen europäischen Haupt-

städten vor einem wiedererstarkenden Deutschland, das

die Machtbalance in Europa zerstören und einen nationa-

len Sonderweg einschlagen könnte. Bundeskanzler Hel-

mut Kohl setzte alles daran, solche Befürchtungen zu zer-

streuen, indem er die deutsche Einheit mit der Vertiefung

der europäischen Integration verknüpfte. Zugleich war

der Verbleib Deutschlands in der NATO für Kohl unver-

zichtbar, um die eigene Sicherheit zu wahren und die west-

lichen Partner zu beruhigen. Die USA, Frankreich und

Großbritannien erachteten die NATO-Mitgliedschaft als

zwingend für die europäische Stabilität. Der sowjetische

Staatschef Michail Gorbatschow stimmte dem Prinzip

der freien Bündniswahl und damit dem Verbleib Gesamt-

deutschlands in der NATO zu, nachdem er anfangs bünd-

nispolitische Neutralität gefordert hatte. Dafür ging Bonn

auf andere Anliegen ein und finanzierte u.a. den bis 1994

gestreckten Abzug sowjetischer Streitkräfte aus der DDR.

Weitere Selbstbeschränkungen, etwa der erneute Verzicht

auf ABC-Waffen und die Begrenzung der Bundeswehr auf

370.000 Mann, rundeten das Paket deutscher Rückversi-

cherungen nach Westen und Osten ab und machten im

Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 den Weg frei für die

Wiedervereinigung.

2

Die Bundesrepublik besaß damit einen präzisen außen-

politischen Kompass, der sie weiter leiten würde. Die Ver-

ankerung im Westen und die Weiterentwicklung beste-

hender Institutionen waren aus deutscher Sicht essenziell

für die europäische Friedensordnung. Interessenverflech-

tung, Institutionalisierung und Selbsteinbindung hatten

sich als außenpolitische Instrumente bewährt. Angesichts

seiner Lage an der Schnittstelle zwischen Ost und West

und seiner historischen Verantwortung hatte Deutsch-

land ein besonderes Interesse daran, den Kalten Krieg in

einen positiven Frieden zu überführen. Sein politisches

und wirtschaftliches Gewicht sowie die seit den Tagen der

Neuen Ostpolitik und im Prozess der Wiedervereinigung

kultivierten Beziehungen nach Osten machten es auf dem

Weg dahin zu einem wichtigen Mittler. Eine wertneutrale

„Brücke“ zwischen Ost und West konnte und wollte das

wiedervereinigte Deutschland jedoch nicht sein.

Suche nach einer gesamteuropäischen Friedens­

ordnung im westlichen Verbund

Die Chancen für eine gesamteuropäische Friedensord-

nung schienen günstig, weil ein neuer Grundkonsens

von Vancouver bis Wladiwostok in Aussicht stand. Die

NATO und der Warschauer Pakt erklärten im November

1990 ihre Feindschaft für beendet. Die im Rahmen der

blockübergreifenden KSZE im November 1990 formu-

lierte Charta von Paris kündigte „in Europa ein neues

Zeitalter der Demokratie, der Freiheit und der Einheit“

an und versprach ein „unerschütterliches Bekenntnis zu

einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beru-

henden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche

Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicher-

heit für alle unsere Länder.“ Zugleich bekräftigten die

Unterzeichner, jeder „gegen die territoriale Integrität

oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten

Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu entsagen.

3

Die Sowjetunion und ihre Satelliten verpflichteten sich

damit zu grundlegenden Reformen; zugleich schwor

Moskau Ansprüchen auf Weisungs- oder Interventions-

prärogative in einer eigenen Einflusssphäre ab. Bundes-

präsident Richard von Weizsäcker fasste die damalige

2 Zur bundesrepublikanischen Außenpolitik von den Anfängen bis zur Wie-

dervereinigung vgl. Stephan Bierling: Die Außenpolitik der Bundesrepublik

Deutschland. Normen, Akteure, Entscheidungen,

2

München 2005.

3 Charta von Paris für ein neues Europa, 21.11.1990,

<www.osce.org/node/

39518> [Stand: 04.09.2016].