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Die Bayerische Verfassung in der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Letzteres betrifft vor allem das so genannte „Finanztabu“,

wonach über den Staatshaushalt kein Volksentscheid statt-

findet (Art. 73 BV). Deshalb hielt das Staatsministerium

des Innern, für Bau und Verkehr ein Volksbegehren für

unzulässig, das auf die Abschaffung der gesetzlich vorge-

schriebenen Studienbeiträge der Studenten gerichtet war.

Der Verfassungsgerichtshof hat das Volksbegehren jedoch

in seiner Entscheidung vom 22. Oktober 2012 für zuläs-

sig erachtet, weil die Studienbeiträge nach der gesetzlichen

Konzeption nicht im Staatshaushalt, sondern in den Kör-

perschaftshaushalten der Hochschulen vereinnahmt wur-

den und für den Freistaat Bayern keine gesetzliche Pflicht

bestand, die Hochschulen für die wegfallenden Einnah-

men zu entschädigen. Zu einem Volksentscheid kam es

dennoch nicht mehr, da der Bayerische Landtag dem

Gesetzentwurf des Volksbegehrens zugestimmt hat.

Die Beschränkungen des bayerischen Gesetzgebers im

Allgemeinen waren hingegen hinsichtlich des Volksbe-

gehrens „Ja zur ‚Legalisierung von Cannabis in Bayern‘

als Rohstoff, Medizin und Genussmittel“ von Bedeutung.

Der Verfassungsgerichtshof hat das Volksbegehren in sei-

ner Entscheidung vom 21. Januar 2016 für unzulässig

erklärt. Der Umgang mit Cannabis ist bereits Gegenstand

abschließender bundesgesetzlicher Regelungen auf den

Gebieten des Betäubungsmittel-, des Arzneimittel-, des

Straf- und des Straßenverkehrsrechts, sodass der Landes-

gesetzgeber zu diesbezüglichen Regelungen nicht befugt

ist (Art. 72 Abs. 1 GG). Dies gilt nicht nur für den bay-

erischen Parlaments-, sondern auch für den bayerischen

Volksgesetzgeber.

Verfassung als offene Ordnung

In den dargestellten Verfahrensarten werden die beiden

wichtigsten Funktionen des Verfassungsgerichtshofs deut-

lich, nämlich die Funktion als Hüter der Verfassung und die

Funktion der Interpretation und Ausfüllung des geschriebe-

nen Verfassungsrechts. In der Verfassung sind die wesent-

lichen Maßstäbe und Leitbilder unserer Rechtsordnung

niedergelegt. Neben die Integrations- und Organisations-

funktion der Verfassung tritt damit eine rechtliche Leitfunk-

tion. Die Regelungen der Verfassung sind jedoch weder voll-

ständig noch vollkommen. Die Verfassung ist zwangsläufig

keine geschlossene Kodifikation, sondern enthält lediglich

eine punktuelle Zusammenfassung wesentlicher Grund-

sätze der Gesamtordnung des Staates. Sie wird deshalb als

eine „offene“ Ordnung bezeichnet, die durch die einfache

Gesetzgebung und die Rechtsanwendung für die einzelnen

Lebenssituationen erst konkretisiert werden muss. In Streit-

fällen bestimmt der Verfassungsgerichtshof, wie die „offene“

Ordnung der Verfassung auszulegen und auszufüllen ist.

„Verfassung in der Zeit“

Die Werteordnung der Verfassung darf nicht als ein stati-

sches – quasi „versteinertes“ – Leitbild für unsere Rechts-

ordnung verstanden werden. Jede Verfassung ist „Verfas-

sung in der Zeit“. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, auf

die sich die Verfassung bezieht, unterliegt dem geschicht-

lichen Wandel. Der Inhalt und das Verständnis der Verfas-

sung bleiben hierdurch nicht unberührt. Natürlich kann

es nicht Sinn einer Verfassung sein, den jeweiligen gesell-

schaftlichen Strömungen und den politischen Machtver-

hältnissen zu entsprechen. Die bitteren Erfahrungen mit

dem nationalsozialistischen Unrechtsregime haben deut-

lich gezeigt, dass es unantastbare Verfassungsgrundwerte

geben muss, die bei allem gesellschaftlichen Wandel nicht

infrage gestellt werden dürfen.

Andererseits können wir uns aber auch nicht beruhigt

zurücklehnen und sagen: „Unsere Grundwerte sind in der

Verfassung festgeschrieben und werden durch sie vertei-

digt; damit ist alles geregelt.“ Die Verfassung geht viel-

mehr – selbst ohne Änderung ihres Wortlauts – mit der

Zeit. Sie muss sich in der Verfassungswirklichkeit bewäh-

ren; etwa dann, wenn sich aufgrund des technisch-wissen-

schaftlichen Fortschritts grundlegende gesellschaftliche

Fragen ergeben, die während der Entstehung der Verfas-

sung nicht absehbar waren.

Initiatoren eins Volksbegehrens zur Legalisierung von Cannabis vor der

Übergabe der Unterschriftenlisten an das Bayerische Innenministerium

Foto: picture alliance/dpa/Fotograf: Andreas Gebert