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Das Frauenstimmrecht in der Schweiz – Geschichte eines scheinbaren Anachronismus
Einsichten und Perspektiven 1 | 18
selbst Männer ihrerseits die Bühne zu stürmen und die
Rede zu ergreifen. Doch um dem Vorwurf der gemäßigten
Frauenrechtlerinnen, mit dem Marsch der aufbegehren-
den Jugend eine Plattform für ihre revolutionären Parolen
zu geben zu entkräften, ließ Emilie Lieberherr einfach den
Stecker der Lautsprecheranlage ziehen.
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Die Teilnahme älterer Frauen zum einen, junger Pro-
testierender zum anderen, ergab ein höchst ungewohntes
Bild, das Echo auf den Marsch war enorm. Um die 250
Berichte erschienen und drängten die Protestversamm-
lung der Frauenverbände im Kursaal an den Rand des
öffentlichen Interesses. Doch die intensive Lobbyarbeit
dieser Frauenrechtlerinnen zeigte ebenso Wirkung wie der
Protestmarsch. Im Eiltempo kam nun eine neue Abstim-
mungsvorlage ins Parlament. Bereits 1971, wie zwölf Jahre
zuvor am ersten Februarsonntag, fand die Abstimmung
statt, doch mit dem zahlenmäßig umgekehrten Ergeb-
nis einer Zweidrittelmehrheit
für
das Stimmrecht. Dieses
Kippen zeichnet der Film „Die göttliche Ordnung“ nach,
wenn auch – dem Plot geschuldet – mit erheblichen Frei-
heiten bezüglich der zeitlichen Abfolge.
Das Ende der „göttlichen Ordnung“
Die Dynamik des Films „Die göttliche Ordnung“ wird
ausgelöst durch das gesetzlich gestützte Verbot des Ehe-
mannes gegenüber der Heldin, als Mutter zweier Söhne
wieder eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Nach der Ein-
führung des Frauenstimmrechts stand das seit 1912 gültige
Familienrecht allerdings zur Disposition. Gegen das vom
Parlament Mitte der 1980er Jahre verabschiedete partner-
schaftliche Eherecht, das der patriarchalen Vorherrschaft
in der Familie ein Ende bereitete, wollte eine Gruppe Poli-
tiker rund um Christoph Blocher, den heute noch über
die Schweizer Grenzen hinaus bekanntesten Schweizer
Rechtskonservativen, mit einem Referendum vorgehen.
Die Mehrheit der abstimmenden Männer in der deutsch-
sprachigen Schweiz lehnten die Gesetzesrevision Mitte
der 1980er Jahren immer noch ab, doch das inzwischen
gültige Frauenstimmrecht machte diesen Patriarchen
einen Strich durch ihre Rechnung. Die Frauen stimmten
in allen Sprachregionen der Schweiz mit überwältigender
Mehrheit mit Ja und glichen die negativen Stimmen bei
weitem aus. So ist seit 1988 zumindest formal auch in der
Familie die „göttliche Ordnung“ abgeschafft. Im Kanton
Appenzell allerdings, in dem der Film spielt, dauerte auf
25 Lotti Ruckstuhl: Frauen sprengen Fesseln. Hindernislauf zum Frauen-
stimmrecht in der Schweiz, Bonstetten 1986, S. 138–142.
Der Film erzählt die Geschichte der Protagonis-
tin Nora, einer jungen Hausfrau und Mutter die
1971 mit ihrem Mann, ihren zwei Söhnen und
dem Schwiegervater in einem Dorf im Schwei-
zer Kanton Appenzell lebt. Eigentlich sollte diese
Zeit ganz im Zeichen der 68er-Bewegung stehen,
doch von den gesellschaftlichen und strukturel-
len Umwälzungen in anderen Teilen der Welt ist
im Schweizerischen Appenzell nichts zu spüren.
Sie beschließt sich den verhärteten Strukturen in
ihrer Heimat entgegenzusetzen. Als die Appenzel-
ler Männer nun in einem Votum über das Frauen-
wahlrecht abstimmen sollen, beginnt Nora sich für
ihre Rechte zu engagieren. Mit ihren politischen
Ambitionen motiviert sie auch andere Frauen aus
ihrem Dorf Veränderung zu schaffen. Gemeinsam
streben sie letztlich nicht mehr nur politische,
sondern auch sexuelle Gleichberechtigung an. Als
Nora öffentlich zu einem Streik aufruft, inten-
siviert sich der Konflikt, Dorf- und Familienfrie-
den geraten in Gefahr und die komplexen Bezie-
hungsstrukturen zwischen Generationen und
Geschlechtern werden zunehmend deutlich.
Filmcover „Die göttliche Ordnung‘“ von Petra Volpe
Foto:
alamodefilm.de