62
Das Frauenstimmrecht in der Schweiz – Geschichte eines scheinbaren Anachronismus
Einsichten und Perspektiven 1 | 18
mit enormem Engagement für das Frauenstimmrecht ein,
redeten, lobbyierten, klärten auf, wollten aber unter allen
Umständen jegliche Provokation vermeiden. Als nun Iris
von Roten im Spätsommer 1958 in der Buchhandlung
der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenar-
beit SAFFA ihr fulminantes Werk „Frauen im Laufgitter“
auflegte, kam es zum Skandal. Denn sie plädierte darin
nicht nur für die rechtliche und berufliche Gleichstellung,
sondern ebenso für die freie Liebe. Da war sie, die Provo-
kation, die man unter allen Umständen vermeiden wollte.
Die meisten Frauenverbände distanzierten sich von Buch
und Autorin gleichermaßen, ja bezichtigten später zum
Teil Iris von Roten der Mitschuld am Abstimmungsde-
bakel zum Frauenstimmrecht. Denn die Mehrheit der
Männer verweigerten am Sonntag, 1. Februar 1959, den
Frauen dieses Recht mit einer satten Zweidrittelmehrheit:
die meisten ohne Scham über die inzwischen weltweit
abnorme Situation, vielmehr stolz auf den schweizerischen
„Sonderweg“. Eigentlich ein Skandal, der allerdings im
Gegensatz zu Iris von Rotens Werk nicht als solcher in die
Geschichte einging. Vielmehr hielt sich die Empörung in
Grenzen. Dagegen wurden die Lehrerinnen am Töchter-
gymnasium Basel, die am Montag nach der Abstimmung
als Antwort auf das Resultat streikten, von den Behörden
bestraft.
Trotzdem, ein erster Durchbruch war geschehen. In
Neuenburg, Waadt und Genf überwogen die befürwor-
tenden Stimmen. Alle drei Kantone führten nun das Frau-
enstimmrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene ein.
1968 – Auftakt zum Durchbruch
Die Regierung sah nach dem negativen Männer-Ent-
scheid vorläufig keinen Grund zu handeln. Selbst die in
vielen Städten Europas sich manifestierenden Proteste
veranlassten ihn nicht, etwas hinsichtlich dieser Frage zu
unternehmen. Dieser Aufbruch war zwar ein transnatio-
nales Phänomen, doch mit je national oder auch regio-
nal eigener Färbung, so in Deutschland unterlegt von der
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und
in den USA mit dem Vietnamkrieg. Das Spezifische der
Schweiz war der kaum noch nachvollziehbare Ausschluss
der Frauen als Staatsbürgerinnen. Dass sich allerdings
die neu entstandene Frauenbewegung nicht mit der for-
mal rechtlichen Gleichstellung begnügte, sondern neben
gleichen Löhnen und Bildungschancen auch die sexuelle
Befreiung der Frauen sowie die Aufteilung der Haus- und
Betreuungsarbeit einforderte, schienen die Herren trotz
der sich auch in der Schweiz manifestierenden Unruhen
nicht wahrzunehmen. Vielmehr wollte der Bundesrat in
eben diesem Jahr 1968 die Europäische Menschenrechts-
konvention (EMRK) mit dem Vorbehalt des fehlenden
Frauenstimmrechts unterzeichnen.
Auf diesen Affront reagierten die Frauenrechtlerinnen
mit einem Sturm der Entrüstung. Doch wie - darüber war
sich wie schon beim Landesstreik 1918 auch der Schwei-
zerische Frauenstimmrechtsverband nicht einig. Auf der
Straße oder mit einer Protestversammlung? Eine knappe
Mehrheit entschied sich für die Versammlung im Berner
Kursaal, da man unter keinen Umständen den Eindruck
erwecken wollte, mit der Neuen Linken gemeinsame
Sache zu machen. Man war schließlich vorgewarnt. Bei
der Feier zum 75-jährigen Jubiläum des Zürcher Frau-
enstimmrechtsvereins im Schauspielhaus im November
1968 hatten sich junge Frauen des Mikrofons bemächtigt
und riefen die Anwesenden zur Diskussion statt zum Fei-
Das Bundeshaus, Sitz von Regierung und Parlament in der Schweizer Haupt-
stadt Bern
Foto: Stefan Huwiler/imageBROKER/Süddeutsche Zeitung Photo