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Das Frauenstimmrecht in der Schweiz – Geschichte eines scheinbaren Anachronismus

Einsichten und Perspektiven 1 | 18

mit enormem Engagement für das Frauenstimmrecht ein,

redeten, lobbyierten, klärten auf, wollten aber unter allen

Umständen jegliche Provokation vermeiden. Als nun Iris

von Roten im Spätsommer 1958 in der Buchhandlung

der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenar-

beit SAFFA ihr fulminantes Werk „Frauen im Laufgitter“

auflegte, kam es zum Skandal. Denn sie plädierte darin

nicht nur für die rechtliche und berufliche Gleichstellung,

sondern ebenso für die freie Liebe. Da war sie, die Provo-

kation, die man unter allen Umständen vermeiden wollte.

Die meisten Frauenverbände distanzierten sich von Buch

und Autorin gleichermaßen, ja bezichtigten später zum

Teil Iris von Roten der Mitschuld am Abstimmungsde-

bakel zum Frauenstimmrecht. Denn die Mehrheit der

Männer verweigerten am Sonntag, 1. Februar 1959, den

Frauen dieses Recht mit einer satten Zweidrittelmehrheit:

die meisten ohne Scham über die inzwischen weltweit

abnorme Situation, vielmehr stolz auf den schweizerischen

„Sonderweg“. Eigentlich ein Skandal, der allerdings im

Gegensatz zu Iris von Rotens Werk nicht als solcher in die

Geschichte einging. Vielmehr hielt sich die Empörung in

Grenzen. Dagegen wurden die Lehrerinnen am Töchter-

gymnasium Basel, die am Montag nach der Abstimmung

als Antwort auf das Resultat streikten, von den Behörden

bestraft.

Trotzdem, ein erster Durchbruch war geschehen. In

Neuenburg, Waadt und Genf überwogen die befürwor-

tenden Stimmen. Alle drei Kantone führten nun das Frau-

enstimmrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene ein.

1968 – Auftakt zum Durchbruch

Die Regierung sah nach dem negativen Männer-Ent-

scheid vorläufig keinen Grund zu handeln. Selbst die in

vielen Städten Europas sich manifestierenden Proteste

veranlassten ihn nicht, etwas hinsichtlich dieser Frage zu

unternehmen. Dieser Aufbruch war zwar ein transnatio-

nales Phänomen, doch mit je national oder auch regio-

nal eigener Färbung, so in Deutschland unterlegt von der

Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und

in den USA mit dem Vietnamkrieg. Das Spezifische der

Schweiz war der kaum noch nachvollziehbare Ausschluss

der Frauen als Staatsbürgerinnen. Dass sich allerdings

die neu entstandene Frauenbewegung nicht mit der for-

mal rechtlichen Gleichstellung begnügte, sondern neben

gleichen Löhnen und Bildungschancen auch die sexuelle

Befreiung der Frauen sowie die Aufteilung der Haus- und

Betreuungsarbeit einforderte, schienen die Herren trotz

der sich auch in der Schweiz manifestierenden Unruhen

nicht wahrzunehmen. Vielmehr wollte der Bundesrat in

eben diesem Jahr 1968 die Europäische Menschenrechts-

konvention (EMRK) mit dem Vorbehalt des fehlenden

Frauenstimmrechts unterzeichnen.

Auf diesen Affront reagierten die Frauenrechtlerinnen

mit einem Sturm der Entrüstung. Doch wie - darüber war

sich wie schon beim Landesstreik 1918 auch der Schwei-

zerische Frauenstimmrechtsverband nicht einig. Auf der

Straße oder mit einer Protestversammlung? Eine knappe

Mehrheit entschied sich für die Versammlung im Berner

Kursaal, da man unter keinen Umständen den Eindruck

erwecken wollte, mit der Neuen Linken gemeinsame

Sache zu machen. Man war schließlich vorgewarnt. Bei

der Feier zum 75-jährigen Jubiläum des Zürcher Frau-

enstimmrechtsvereins im Schauspielhaus im November

1968 hatten sich junge Frauen des Mikrofons bemächtigt

und riefen die Anwesenden zur Diskussion statt zum Fei-

Das Bundeshaus, Sitz von Regierung und Parlament in der Schweizer Haupt-

stadt Bern

Foto: Stefan Huwiler/imageBROKER/Süddeutsche Zeitung Photo