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Das Frauenstimmrecht in der Schweiz – Geschichte eines scheinbaren Anachronismus
Einsichten und Perspektiven 1 | 18
Kantonen – darunter Basel, Zürich und Genf – erfolgten
Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimm- und
-wahlrechts auf lokaler Ebene. Sie endeten jedoch allesamt
mit einem mehr als deutlichen Nein der Männer, auch in
den von den Sozialdemokraten dominierten Wahlkreisen.
Auch die im Gefolge des Streiks bereits im Dezember
1918 im Schweizer Parlament eingereichten Motionen
eines Basler Liberalen und eines Zürcher Sozialdemokra-
ten wurden jahrzehntelang in die Schublade gelegt.
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Nicht
besser erging es der an der Schweizerischen Ausstellung für
Frauenarbeit SAFFA von 1928 lancierten Frauenstimm-
rechtspetition, die 1929 mit einer Viertelmillion Unter-
schriften von Frauen und Männern eingereicht wurde.
Dies war die höchste Zahl an Unterschriften einer Petition
seit der Gründung des Bundesstaates 1848.
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Doch auch
diese verschwand letztendlich. Wirtschaftskrise und tota-
litäre Regime in den Nachbarländern sowie der Ausbruch
des Zweiten Weltkriegs bewogen die Frauenverbände zur
Mäßigung, auch wenn sie immer wieder auf das fehlende
Stimmrecht verwiesen. Konservative Politiker wollten sie
unter dem Stichwort „Doppelverdienerinnen“ nicht nur
weiterhin von der rechtlichen Gleichstellung ausschlie-
ßen, sondern auch verheiratete Frauen zurück an den
Herd befördern. Erst als sich mit dem Sieg der Alliierten
klar abzeichnete, dass nun auch in allen Ländern Europas
das Frauenwahlrecht eingeführt würde, erzeugten Einga-
ben im Parlament neuen Optimismus.
„Weibeln“ oder Provozieren im Kalten Krieg
Kurz vor Kriegsende reichte der Sozialdemokrat Oprecht
ein Postulat ein, um sicher zu stellen, dass parallel zu Frank-
reich und Italien auch in der Schweiz das Frauenstimm-
recht eingeführt werde. Die Frauenverbände gründeten ein
Aktionskomitee zur Unterstützung dieses Postulats. Doch
gleichzeitig schlossen sich auch lokale Gruppierungen aus
der deutschen Schweiz zum Schweizerischen Frauenkreis
gegen das Frauenstimmrecht zusammen. So wurde 1945
zwar im Parlament heftig debattiert, allerdings ohne Resul-
tat. 1949 wollte der junge katholisch konservative Natio-
nalrat Peter von Roten die Einführung des Frauenstimm-
rechts mit einem weiteren Postulat evaluieren.
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Unter dem Einfluss seiner Ehefrau Iris von Roten, einer
versierten Juristin, Feministin und Journalistin, war er in
16 Joris/Wegmüller (wie Anm. 12), S. 14 f.
17 Joris/Wegmüller (wie Anm. 12), S. 17; Hardmeier (wie Anm. 8), S. 299–312.
18 Renate Wegmüller: Die Frau gehört ins Haus, Frauenstimmrecht und seine
Hindernisse in der Schweiz und im Kanton Bern – zugleich ein Beitrag zu
Art. 4 Abs. 2 BV, Bern 2000, S. 28.
eklatantem Gegensatz zu seiner Partei zu einem der promi-
nentesten Vertreter der Einführung des Frauenstimmrechts
über den Interpretationsweg geworden. Dies sollte dem als
„Frauenknecht“ diffamierten von Roten den Parlaments-
sitz kosten. Auch der Schweizerische Verband für Frauen-
stimmrecht schlug über eine Eingabe an die Regierung, das
heißt dem siebenköpfigen Bundesrat, vor, den Begriff des
„stimmberechtigten Schweizers“ in der Verfassung im Sinne
der Forderung von Kempin-Spyri rund 70 Jahre zuvor auf
beide Geschlechter anzuwenden, da sich dann eine Abstim-
mung und allfällige Demütigung durch die Männer erüb-
rigt hätte. Weitere Eingaben folgten und in einigen Kanto-
nen wie Basel und Genf kam es zu Probeabstimmungen,
in denen Frauen ihre Stimmen abgeben konnten: Überall
bejahten klare Mehrheiten die Einführung des Stimm- und
Wahlrechts, eine Befürwortung, die allerdings gesamt-
schweizerisch bei den Männern kaumWirkung zeigte.
Die Debatten zur Frage des Frauenstimmrechts in beiden
Räten des Parlaments (Nationalrat und Ständerat) und in
der Presse waren hitzig. Auch wenn sich der rein bürgerlich
zusammengesetzte Bundesrat in den 1950er Jahren nicht
mehr gegen das Frauenstimmrecht aussprach, so war den-
noch spürbar, dass die Mehrheit der liberalen bis konservati-
ven Politiker sich offen oder versteckt dagegen stellte. Diese
Haltung war nur scheinbar ein Anachronismus.
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Es ging
schlicht um Macht: als Oberhaupt der Familie, in Bezug
auf die Verfügung über das Vermögen der Ehefrau sowie
um die Erhaltung der ungleichen Löhne in der Berufswelt.
Der Kalte Krieg war ein geeignetes Umfeld, diese Macht-
position zu behaupten. Man sah auch nicht davon ab, die
Nicht-Betroffenheit vom Ersten und Zweiten Weltkrieg als
einen spezifischen Verdienst des Schweizer Systems und des
damit zusammenhängenden Wehrwillens des Staatsbür-
gers als Soldat zu präsentieren. Ohne Selbstzweifel zu zei-
gen, ordneten Politiker von der eidgenössischen bis lokalen
Ebene den Frauen unter dem Schlagwort „Stauffacherin“
weiterhin die Rolle im Haus zu. Im Kalten Krieg erhielt
die restriktive Haltung wieder von anderer Seite Aufwind:
dem Antikommunismus. Denn wie man wusste, war in den
sozialistischen Ländern stärker als im Westen ja auch die
Mutter berufstätig und die Kinder wurden gemeinschaft-
lich in Krippen erzogen. Die Kampagnen wirkten: Keine
einzige Abstimmungen zu Gunsten des Frauenstimmrechts
auf kantonaler Ebene wurde befürwortet.
19 Caroline Arni: Hier ist das Buch. Iris von Rotens „Frauen im Laufgitter“,
die Rhetorik der Unpünktlichkeit und der feministische Essay, und Regina
Wecker: Zu Caroline Arnis „Rhetorik der Verspätung" in: Olympe. Feminis-
tische Zeitschrift zur Politik 28 (2009), S. 41–49 und S. 50–53.