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Das Frauenstimmrecht in der Schweiz – Geschichte eines scheinbaren Anachronismus
Einsichten und Perspektiven 1 | 18
erweisen sollte, oder wie es die Historikerin Caroline Arni
treffend formulierte: „Das Bekenntnis zur Nation war
zugleich
nolens volens
ein Bekenntnis zu einem politischen
Gemeinwesen, aus dem die Frauen grundlegend ausge-
schlossen waren.“
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Demokratisch undemokratisch
Der liberal-demokratische Aufbruch von 1848 ließ
auch in der Schweiz einzelne Frauen von der rechtlichen
Gleichstellung träumen. Diese mussten dann allerdings
feststellen, dass die revolutionäre Umwälzung den Män-
nern zwar das allgemeine aktive und passive Wahlrecht,
den Frauen aber nichts gebracht hatte.
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Neuen Schwung
versprach rund zwanzig Jahre später die demokratische
Bewegung, die in der Schweiz die direkte Mitsprache des
Volkes bei der Gesetzgebung einforderte. Das bewog 1868
mehrere Frauen „aus dem Volk“ sich direkt an den kan-
tonalen Verfassungsrat zu wenden. In einem Schreiben
hielten sie den Politikern Selbstgefälligkeit vor und for-
derten den Rat auf, unmissverständlich die vollumfängli-
che „Wahlberechtigung und Wahlfähigkeit für das weibli-
che Geschlecht“ zu postulieren.
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In Genf gründete 1872
Marie Goegg-Pouchoulin die „
Association internationale
pour la défense des droits de la femme
“, kurz „
Solidarité
“
genannt, die ebenfalls die „
égalité complète
“ einforderte.
Als deren Mitglied rief die Bernerin Julie von May vor
der bevorstehenden Revision der Schweizer Verfassung die
Frauen auf, sich in Vereinen zusammenzuschließen, um
ihren Interessen Gehör zu verschaffen.
Die Verfassungsrevision von 1874 ebnete der Einfluss-
nahme von Vereinen bei der Ausarbeitung von Gesetzes-
vorlagen den Weg. Damit sollten noch vor der parlamenta-
rischen Debatte unterschiedliche Interessenvertretungen in
die Gesetzgebung eingebunden werden, um zu verhindern,
dass ein vom Parlament angenommenes Gesetz im Nach-
hinein an der Urne abgelehnt würde. Denn neu war ein
Gesetz dem Stimmvolk vorzulegen, wenn innerhalb von
drei Monaten mindestens 30.000 Stimmbürger mit ihrer
Unterschrift den Wunsch dazu bezeugten. Dieses „Geset-
zesreferendum“ wurde 1891 noch durch das Initiativrecht
ergänzt, das eine Teiländerung der Verfassung ermög-
2 Vgl. Caroline Arni: Republikanismus und Männlichkeit in der Schweiz, in:
Schweizerischer Verband für Frauenrechte (wie Anm. 1), S. 20–31, hier S. 29.
3 Elisabeth Joris: Liberal und eigensinnig, Die Pädagogin Josephine Stadlin
– die Homöopathin Emilie Paravicini-Blumer. Handlungsspielräume von
Bildungsbürgerinnen im 19. Jahrhundert, Zürich, S. 119 f.
4 Staatsarchiv Zürich, zit. n. Elisabeth Joris/Heidi Witzig: Frauenge-
schichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen
in der Schweiz, 4. erg. Auflage, Zürich 1991, S. 485.
lichte, sofern eine „Volksinitiative“ zu einem Verfassungs-
artikel von 50.000 Stimmbürgern innerhalb eines Jahres
unterzeichnet werde. Dieses verfassungsmäßig garantierte
direktdemokratische Recht war ein zentraler, aber nicht
der einzige Faktor, der die Einführung der politischen
Partizipation der Frauen von den Stimmen der Schweizer
Männer abhängig machte. Dabei konnte sich die wider-
sprüchliche Haltung der Männer nicht deutlicher zeigen,
als dass den Frauen ausgerechnet aufgrund demokratischer
Formalia die Gleichberechtigung vorenthalten wurde. Die
Anrufung des Volkes war insofern nichts mehr als fragwür-
dige legitimatorische Praxis männlicher Autokratie.
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Kühne Pionierin – ambivalente „Stauffacherin“
Die Zurücksetzung wurde jedoch nicht widerspruchs-
los akzeptiert. Überall auf der Welt begannen Frauen die
politische Gleichstellung einzufordern. Dazu rief zum
Jahreswechsel 1886/87 die promovierte Historikerin
Meta von Salis mit einem „ketzerischen“ Neujahrsartikel
die Schweizerinnen auf: „Stimmen, wählen und gewählt
zu werden sei hinfort unsere Devise und unser Ziel“, um
„der übergangenen Klasse“ gleichzeitig zu raten, nicht
auf die Zustimmung der „bisherigen Herren“ zu setzen.
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Zur selben Zeit reichte die auch in Berlin bekannte erste
Juristin Europas, Emilie Kempin-Spyri, staatsrechtli-
che Beschwerde gegen die Verletzung von Artikel 4 der
Bundesverfassung über die rechtliche Gleichstellung aller
Personen ein. Sie verlangte die Ausdehnung des Begriffs
„Schweizer“ und die damit einhergehenden Rechte für
Frauen auf alle Gesetze. Diese Uminterpretation sei
„ebenso neu als kühn“, so das Bundesgericht in seiner
Ablehnung der Beschwerde.
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Stärker als diese beiden Pionierinnen versuchten
Frauen um die Jahrhundertwende im Sinne von May über
die Gründung einer Vielzahl neuer Vereine und Verbände
die gesellschaftliche Situation von Frauen zu verbessern,
ohne direkt die politische Mitbestimmung anzustreben.
Als erste Organisation forderte 1893 der drei Jahre zuvor
gegründete Schweizerische Arbeiterinnenverband das
5 Sybille Hardmeier: Die Schweizer Frauenrechtlerinnen und ihr Verhältnis
zum Staat: zwei Thesen zur Auswirkung des politischen System und der
politischen Kultur auf die frühe Frauenstimmrechtsbewegung, in: Frauen
und Staat, hg. v. Brigitte Studer u. a., Itinera, Fasc. 20, 1998, S. 22–27.
6 Meta von Salis: Ketzerische Neujahrsgedanken einer Frau, Züricher Post,
Neujahrsausgabe 1887, zit. n. Bettina Volland, Teil I, Der lange Kampf, in:
frauenRecht. Frauen- und Geschlechtergeschichte Graubünden, Bd. 1, hg.
v. Silvia Hofmann u. a., Zürich 2003, S. 74 f.
7 Bundesgerichtsentscheid 13 4, zit. n. Marianne Delfosse: Emilie Kempin-Spyri
(1853–1910). Das Wirken der ersten Schweizer Juristin, Zürich 1994, S. 45.