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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
Landkarte neu gezeichnet werden musste. Damals erwies
sich der weitere Verlauf der Geschichte so offen wie sel-
ten zuvor. Hinter dem Trümmerhaufen der alten Welt
des „langen 19. Jahrhunderts“ leuchteten hell die vielver-
sprechenden Träume und Sehnsüchte des neuen Säku-
lums auf. Ein erbittertes Ringen um eine bessere Zukunft
begann und erzeugte neue Gewalt, die mit ihrem Blutzoll
die überstandenen Kriegsgräuel oftmals sogar noch über-
treffen sollte.
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Als nach Ende des Ersten Weltkriegs die Zeit neuer
Heilsverkünder heraufzog, die mit ihren mitreißenden
Zukunftsentwürfen ideologische Lunten an das Pulverfass
unversöhnlicher Feindseligkeit anlegten, stach das Neuar-
tige des Roten Oktobers besonders hervor. Mit der erst-
4 Zum historischen Moment des Jahres 1918 vgl. Kershaw (wie Anm. 3),
S. 139-214; Daniel Schönpflug: Kometenjahre. 1918: Die Welt im Auf-
bruch, Frankfurt am Main 2017.
maligen Staatswerdung des Sozialismus sprengte er den
Horizont der Zeit. Die Machtübernahme der Bolschewiki
weckte die begeisterte, völlig überzogene Erwartung, ein
irdisches Paradies sei im Entstehen, in dem Gleichheit und
Gerechtigkeit dauerhaft über Unterdrückung und Aus-
beutung siegen werde, um dem gesellschaftlichen Zusam-
menleben neue Bahnen vorzugeben. Die im Juli 1918 für
das neue Sowjetrussland erlassene Verfassung formulierte
als politisches Ziel „die Abschaffung aller Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen, die vollständige Besei-
tigung der Teilung der Gesellschaft in Klassen, der rück-
sichtslosen Unterdrückung der Ausbeuter, die Schaffung
einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft und
den Sieg des Sozialismus in allen Ländern der Erde“.
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Der Russische Bürgerkrieg 1918-1921
Bevor sich die Führer des neuen Sowjetstaats daran
machen konnten, die politischen Pathologien der alten
Zarenmacht und die sozialen Trümmerhaufen des Kriegs-
geschehens aus dem Weg zu räumen, folgten den fürch-
terlichen Weltkriegsjahren mit Millionen von Toten,
Verwundeten und Heimatlosen drei weitere, noch ver-
lustreichere Jahre des Russischen Bürgerkriegs. Laut
neuster Schätzungen starben von 1914 bis 1922 im Rus-
sischen Reich und in Sowjetrussland 16 Millionen Men-
schen im Verlauf der Kriegsgeschehen sowie an Verlet-
zungen, Hunger oder Krankheit. Mehr als zwei Drittel
dieser Verluste entfielen auf den Bürgerkrieg und dessen
unmittelbaren Folgen.
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Der später mit seinem Roman
„Doktor Schiwago“ weltberühmt gewordene Schriftstel-
ler Boris Pasternak notierte damals, dass „sogar die Luft
nach Tod riecht.“
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Der Begriff „Russischer Bürgerkrieg“ fasst unterschied-
liche militärische Auseinandersetzungen zur einheitli-
chen Geburtsphase des Sowjetstaats zusammen. Diese
von Chaos und brutalen Übergriffen geprägte Zeit der
Wirren begann im Sommer 1918 und zog sich bis weit
ins Jahr 1921 hinein. Seinen Anfang nahm der Bürger-
krieg mit dem Aufstand der Tschechischen Legion. Dabei
handelte es sich um 60.000 tschechische und slowakische
Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs zunächst in
den Reihen der österreich-ungarischen Armee gekämpft
hatten und in russische Kriegsgefangenschaft geraten
5 Zit. n. Steve A. Smith: Die russische Revolution, Stuttgart 2011, S. 61.
6 Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie, München 2015, S. 100; Dietrich
Beyrau: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen, Paderborn 2017, S. 17.
7 Zit. n. Smith (wie Anm. 5), S. 72.
Mit dem Plakat „Hilf!" stellte Dmitrij Moor 1920 das Grauen von Krieg und
Hunger dar.
Foto: ullstein Heritage Images
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932