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Einsichten und Perspektiven 1 | 18

und Mittelschichten kehrten insgesamt knapp 2 Mio.,

oft gut ausgebildete Menschen ihrem Heimatland den

Rücken. Einige dieser Revolutionsmigranten machten

sodann in Europa und den USA Karriere und leisteten

dort ihren Beitrag zur Entwicklung des modernen Wirt-

schafts- und Kulturlebens. Dazu gehörten der Flugzeug-

und Hubschrauberkonstrukteur Igor Sikorskij, der in den

USA zu einem der Pioniere der Luftfahrt aufstieg, die

weltberühmten Musiker Sergej Rachmaninov und Igor

Stravinskij, die einflussreichen Schriftsteller Vladimir

Nabokov und Ivan Bunin sowie Wissenschaftler wie der

Soziologe Pitrim Sorokin und der Nobelpreisträger für

Wirtschaft Simon Kuznets. Die große Mehrheit derjeni-

gen, die ihre gewohnte Lebenswelt aufgeben musste, fris-

tete allerdings in der Fremde als „Staatenlose“ und „Vogel-

freie“ ein eher elendes Dasein. Für sie entwickelte sich die

russische Diaspora zu einer „

community of despair

“.

15

Während viele selbst die Flucht aus Sowjetrussland

antraten, wurden andere von den neuen Machthabern mit

spektakulären Aktionen ins Exil vertrieben. Nachdem

Lenin den bürgerlichen Bildungsschichten im Septem-

ber 1919 schon unterstellt hatte, sie seien „nicht der Kopf,

sondern die Scheiße der Nation“,

16

leitete er im Herbst

1922 höchstpersönlich in die Wege, dass Hunderte hand-

verlesene, öffentlich sichtbare und sprachgewaltige Intel-

lektuelle mit ihren Familien auf zwei sogenannten „Phi-

losophen-Dampfern“ ins Ausland verschifft und damit

zwangsverschickt wurden. Der Sowjetstaat zögerte nicht,

unabhängige Geister und viele seiner fähigsten Köpfe aus

dem Land zu jagen.

17

Diesen durch Flucht und Vertreibung verursachten

massiven Verlust an

intellectual power

versuchten die bol-

schewistischen Parteibosse in der Folgezeit durch breit

angelegte Bildungskampagnen zu kompensieren. Beson-

ders loyale und talentierte Schüler aus Arbeiter- und Bau-

ernfamilien erhielten die Möglichkeit, sich an speziell ein-

gerichteten Hochschulen akademisch ausbilden zu lassen,

um sodann als „rote Spezialisten“ in die neuen Facheliten

15 So die Formulierung von Robert C. Williams: Culture in Exile. Russian Emi-

gres in Germany 1881-1941, Ithaca 1972. Vgl. auch Marc Raeff: Russia

Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration 1919-1939, New

York/Oxford 1990; Karl Schlögel (Hg.): Der Große Exodus. Die russische

Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994; ders.: Das

russische Berlin. Ostbahnhof Europas, München 2007.

16 Zit. n. Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kom-

munismus, München 2017, S. 809.

17 Ebd., S. 822-825; Karl Schlögel: Das Sowjetische Jahrhundert. Archäologie

einer untergegangenen Welt, München 2017, S. 78-94: Lesley Chamber-

lain: Lenin’s Private War. The Voyage of the Philosophy Steamer and the

Exile of the Intelligentsia, New York 2006.

und Führungskader aufzusteigen. Es kam zur Spaltung

der russischen Kultur, die sich über das gesamte 20. Jahr-

hundert fortsetzte und in einigen Aspekten trotz ange-

strengter Versöhnungsversuche auch in der heutigen Zeit

weiter andauert.

18

Kriegskommunismus: Enthemmung und Verwüstung

Während des Bürgerkriegs stürzten sich die Bolsche-

wiki in ihrem verzweifelten Machtkampf nicht nur mit

aller Gewalt in militärische Gefechte; sie entfachten

zugleich einen revolutionären Frontalangriff auf die alte

Gesellschaft, um einen brachialen Katapultstart ins Zeit-

alter des Sozialismus zu wagen. Das trug zur Eskalation

der Gräuel im Bürgerkrieg bei. Die brutalen Maßnahmen

des damals verkündeten „Kriegskommunismus“ zielten

auf die Beseitigung von Privathandel und Privateigentum,

auf die Zerschlagung der traditionellen Bauernwirtschaft

und die Militarisierung der Arbeit. Getrieben von ihren

Modernisierungsfantasien ließen sich die Parteiführer auf

kaum durchdachte Experimente ein, um die widerständi-

gen Realitäten nach ihren Wünschen zu gestalten. 1920

schafften sie sogar für einige Zeit das Geld ab, um so ver-

meintlich den Kapitalismus an der Wurzel auszurotten.

Doch ohne die gewohnten Zahlungsmittel kollabierten

die Waren- und Wirtschaftskreisläufe.

19

Verheerende Fehlschläge stellten auch die ersten Ver-

suche dar, die Bauern in agrarischen Kollektivbetrieben

zusammenzuführen, um die Landwirtschaft und das

Dorfleben auf neue Grundlagen zu stellen. Die bolsche-

wistische Staatsmacht bediente sich darum immer mehr

der willkürlichen Beschlagnahmung von bäuerlichen

Getreidevorräten, um die Rote Armee und die Städte ver-

sorgen zu können. Die Bauern nahmen den Sowjetstaat,

der ihnen gleich nach der Oktoberrevolution das vorma-

lige Adelsland zugesprochen hatte, darum immer mehr

18 Larry Holmes: The Kremlin and the Schoolhouse. Reforming Education in

Soviet Russia, 1917-1931, Bloomington 1991; Dietrich Beyrau: Intelligenz

und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917-

1985, Göttingen 1993, S. 73-80; Manfred Hildermeier: Geschichte der Sow-

jetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen

Staates, München 1998, S. 302-314; Michael David-Fox: Revolution of the

Mind. Higher Learning among the Bolsheviks, 1918-1929, Ithaca 1997.

19 Zur bolschewistischen Wirtschafts- und Finanzpolitik im Kriegskommunis-

mus vgl. Pipes (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 557-626; Mary McAuley: Bread and

Justice. State and Society in Petrograd 1917-1922, Oxford 1991; Silvana

Malle: The Economic Organization of War Communism, 1918–1921, Cam-

bridge 2002; Mauricio Borrero: Hungry Moscow. Scarcity and Urban Society

in the Russian Civil War, 1917–1921, Bloomington 2003; Julie Hessler: A

Social History of Soviet Trade. Trade Policy, Retail Practices, and Consump-

tion, 1917–1953, Princeton/Oxford 2004, S. 51–100; Mikhail V. Khodjakov:

Money of the Russian Revolution, 1917–1920, Newcastle 2014, S. 25–50.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932