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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
sich das in Chaos und Elend versinkende Land regenerie-
ren musste und beim Gewaltmarsch in den Sozialismus
dringend einer Atempause bedurfte. Das „terroristische
Notstandsregime des Bürgerkriegs“ kam an sein Ende.
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Entgegen aller Prophezeiungen war auch die Welt-
revolution keineswegs aus dem Weltkrieg hervorgegan-
gen. Selbst die Hoffnungen auf ein „Sowjetdeutschland“
schwanden dahin, als die Arbeiteraufstände von 1921 und
1923 nicht das Ende der Weimarer Republik heraufbe-
schworen. Die Versuche der Moskauer Parteibosse schei-
terten, außerhalb des eigenen Landes einen revolutionären
Flächenbrand zu provozieren. Der jüngste Tag des Kapi-
talismus und der unwiderstehliche Siegeszug des Sozialis-
mus ließen vorerst auf sich warten.
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Resigniert erklärte
Trotzkij damals, jetzt zeige sich leider in aller Deutlich-
keit, „dass wir nicht so unmittelbar nahe dem Endziel,
der Eroberung der Macht, der Weltrevolution stehen.“
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Diese Einsicht zwang den Kreml zu einer Kurskorrektur.
In der Innenpolitik begannen die Bolschewiki mit dem
X. Parteitag im März 1921, den hohen Mobilisierungsdruck
merklich zu reduzieren. Mit der „Neuen Ökonomischen
Politik“ (NEP) verkündete Lenin den taktischen Rückzug
auf die „Kommandohöhen von Staat und Wirtschaft“. Die
Bauern waren mit ihrer überlieferten Familienwirtschaft wie-
der weitgehend sich selbst überlassen. Die ihnen zugemutete
Steuer- und Abgabenlast wurde auf ein erträgliches Maß
reduziert; mit ihren Überschüssen durften die bäuerlichen
Familien selbständig und weitgehend ungestört Handel trei-
ben.
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Im Juli 1921 gewährten die Bolschewiki auch wieder
die Gewerbefreiheit für Handwerker und kleinindustrielle
Betriebe. Staatsfirmen war es bald sogar erlaubt, ihre Fabriken
an Einzelpersonen zu verpachten und bestimmte unterneh-
merischeTätigkeiten in private Hände zu geben. Durch diese
Rückkehr zu privat- und marktwirtschaftlichen Praktiken
kam es zu einer Wiederbelebung der Austauschbeziehungen
zwischen Stadt und Land sowie zu einer spürbaren Aktivie-
rung der Wirtschaftskreisläufe. Eine neue Grundstimmung,
31 Hildermeier (wie Anm. 18), S. 156.
32 Ebd., S. 352-366; Koenen (wie Anm. 16), S. 856-876; Dietrich Beyrau:
Petrograd, 25. Oktober 1917. Die Russische Revolution und der Aufstieg
des Kommunismus, München 2001, S. 241–245.
33 Zit. n. David Priestland: Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Fran-
zösischen Revolution bis heute, Bonn 2010, S. 165.
34 Wehner (wie Anm. 20), S. 123–265; Stephan Merl (Hg.): Sowjetmacht und
Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirt-
schaft während des „Kriegskommunismus" und der Neuen Ökonomischen
Politik, Berlin 1993; Tracy McDonald: Face to the Village. The Riazan Coun-
tryside Under Soviet Rule, 1921–1930, Toronto 2011; Katja Bruisch: Als das
Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und
Sowjetunion, Köln 2014.
nach Jahren des Kriegs zu neuen Ufern aufgebrochen zu
sein, machte sich breit. Viele Menschen hofften, die Gewalt-
herrschaft der Bolschewiki werde nun durch Bildungs- und
Modernisierungsprogramme ersetzt: endlich Politik statt
Krieg. Das öffentliche Leben kehrte in die Städte zurück,
die sich mit Menschen füllten. In den Dörfern fanden große
Alphabetisierungskampagnen, allerdings auch militante
Feldzüge gegen die Religion statt.
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35 Zur NEP vgl. Pirani (wie Anm. 28), S. 128-232; Sheila Fitzpatrick u.a. (Hg.):
Russia in the Era of NEP. Explorations on Soviet Society and Culture, Bloo-
mington 1991; Robert Service: Lenin. Eine Biographie, München 2000,
S. 544-561; Stephen A. Smith: Russia in Revolution. An Empire in Crisis,
1890 to 1928, Oxford 2017, S. 263-373.
„Die NEP zeigt uns den richtigen Weg"; Propagandaplakat von Michail M.
Čeremnych, 1921-23
Foto: ullstein/Photo 12
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932