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Einsichten und Perspektiven 1 | 18

gan „Mit dem Gesicht zum Dorf“ propagiert, doch bei

der beabsichtigten Herstellung eines „lebendigen Klas-

senbündnisses zwischen Bauern und Arbeitern“ (

smyčka

)

kam den Interessen des Dorfes tatsächlich nur nachran-

gige Bedeutung zu.

58

Zudem war innerhalb der Partei ein heftiger Konflikt

um den Sinn der NEP ausgebrochen. Dabei ging es nicht

zuletzt darum, wer sich im Diadochenkampf um die

Nachfolge des 1924 verstorbenen Lenins durchsetzte.

59

Leichtfertig verspielte die Partei mit ihren ideologisch

und machtpolitisch aufgeladenen Querelen wirtschafts-

politische Optimierungspotentiale. Als es dann 1927/28

infolge ungünstiger Wetterereignisse zu einer Missernte

kam, leerten sich die staatlichen Getreidespeicher in

bedrohlicher Weise. Die Parteieliten verloren auch die

letzte Hoffnung, dass sich mit der „Neuen Ökonomischen

Politik“ der herbeigesehnte schnelle Anschluss an die

industrielle Moderne erreichen ließ. Trotz der spürbaren

Regeneration der Volkswirtschaft hatte die Industriepro-

duktion 1926/27 außerdem erst den Stand von 1913 wie-

der erreicht.

60

Unter diesen Umständen übernahm Stalin

die radikalen Konzepte seines Widersachers Trotzkij, den

er kurz zuvor politisch kaltgestellt und ins Ausland ver-

trieben hatte. Lenins Rückzug auf die „Kommandohöhen

von Staat und Wirtschaft“ erklärte der Kreml endgültig

für beendet. Nun galt es, an allen „Fronten“ in Form eines

„großen Umschwungs“ in den Sozialismus „vorwärtszu-

springen“, um einen umfassenden Wandel der sozioöko-

nomischen Verhältnisse zu erzwingen.

Zwangskollektivierung und der erste Fünfjahresplan

1928-1932

Ausgestattet mit deutlich größerer Organisations- und

Durchschlagskraft machte sich der sowjetische Partei-

staat unter Stalin daran, die in den Wirren des Bürger-

kriegs gescheiterte Zerstörung der bäuerlichen Familien-

wirtschaft erneut anzugehen. Die nach 1928 verordnete

Zwangskollektivierung diente dazu, zum einen das Dorf

dem Willen der Partei zu unterwerfen und zum anderen

58 Wehner (wie Anm. 20), S. 266–362; Hessler (wie Anm. 19), S. 135-171;

James Hughes: Stalin, Siberia and the Crisis of the New Economic Policy,

Cambridge 1991; James Heinzen: Inventing a Soviet Countryside. State

Power and the Transformation of Rural Russia, 1917–1929, Pittsburgh

2004, S. 171–214.

59 Zum Tod Lenins und zu seinem politischen Testament vgl. Service (wie

Anm. 35), S. 599-618.

60 Andrei Markevich/Mark Harrison: Great War, Civil War and Recovery.

Russia’s National Income, 1913 to 1928, Moscow 2011, Tab. A13 und A14,

S. 30 f.

durch die rücksichtslose Ausbeutung der Landbewohner

die notwendigen Ressourcen und Arbeitskräfte für die

zugleich in Angriff genommene Brachialindustrialisierung

zu erhalten.

61

Die kleinen bäuerlichen Familienwirtschaf-

ten mussten ihr Land und Vieh sowie ihre Arbeitsgeräte an

die neu gegründeten Kollektivwirtschaften, die „Kolcho-

zen“, abtreten. Mit dieser Enteignung der Bauern kam es

zur Vernichtung der traditionellen Bauernwirtschaft und

damit zur Zerstörung des überlieferten Dorflebens. Die

proklamierte, aber nie tatsächlich umfassend realisierte

Industrialisierung des Agrarsektors machte aus zuvor

selbständigen Bauern lohnabhängige Landarbeiter. Diese

empfanden die ihnen aufgezwungene Neuordnung oft-

mals als „zweite Leibeigenschaft“, weil sie sich ihres Lan-

des und ihrer Freiheit beraubt und damit um die Früchte

der Revolution von 1917 gebracht sahen.

Bei der gnadenlosen soziopolitischen Flurbereinigung

des Landlebens richteten sich die Gewaltmaßnahmen der

aus Arbeitern und Soldaten bestehenden bewaffneten Kol-

lektivierungsbrigaden vor allem gegen die sogenannten

„Kulaken“, die es im Dorf zu etwas Wohlstand gebracht

hatten oder sprachmächtig und mutig genug waren, um

ihren Unmut zu äußern. Mit unbarmherziger Entmensch-

lichungsrhetorik verkündete der Kreml die „Liquidierung

der Kulaken als Klasse“. Diese bürgerkriegsähnliche Mas-

senkampagne kostete Anfang der 1930er Jahre 600.000

Dorfbewohnern ihr Leben. Zwei Mio. wurden aus ihren

Heimatdörfern in entlegene Peripherien deportiert, wo

sie sich gegen ihren Willen als Zwangsarbeiter ins sozia-

listische Aufbauwerk einbringen mussten. Weiter verloren

vier Mio. Bauern Heim und Hof; sie zogen in die Städte

und auf Großbaustellen, um sich dort meist in großer Not

eine neue Existenzgrundlage zu schaffen.

Die Liquidierungs- und Eliminierungsimperative führ-

ten ebenfalls zur Entweihung von Kirchen und anderen

Gotteshäusern. Während der 1930er Jahre wurde 90 Pro-

zent des Klerus der russisch-orthodoxen Kirche ermordet;

auch zahlreiche geistliche Würdenträger anderer Konfes-

sionen und Religionen fielen der atheistischen Gewalt-

politik zum Opfer. Stalin und seine Getreuen hatten

außerdem keine Skrupel den Hunger als politische Waffe

einzusetzen, um die Bauern und Nomaden Zentralasi-

ens in die neue sozialistische Ordnung auf dem Land zu

zwingen. Wegen dieser heftigen Verwerfungen endete die

61 Im ideologischen Duktus der Zeit sprach der damals führende sowjeti-

sche Ökonom Evgenij Preobraženskij (1886-1937) euphemistisch von der

„primitiven sozialistischen Akkumulation des Kapitals“. Zit. n. Smith (wie

Anm. 5), S. 234.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932