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Einsichten und Perspektiven 1 | 18

Die erste industrielle Retortenstadt der Sowjetunion wurde

zum überwältigenden Prestigeobjekt und Schaufenster des

Sozialismus. Vom Prinzip her war Magnitogorsk der ame-

rikanischen Stahlstadt Gary in Indiana nachempfunden.

Die Technologie für das Stahlwerk lieferte die unter Vertrag

genommene US-Firma McKee aus Cleveland. Für den Ent-

wurf einer neuartigen „Bandstadt“, der besonderes Augen-

merk auf kurze Wege zwischen Fabrik- und Wohnviertel

legte, gewann die Sowjetunion den deutschen Stadtplaner

Ernst May, an dessen Konzept die Verantwortlichen bald

aber immer mehr Abstriche machten.

Trotz der Enttäuschung über May setzte die zu Mitte

der 1930er Jahre schon von 250.000 Menschen bewohnte

Industriestadt Magnitogorsk Wegzeichen für die Ent-

wicklung der sowjetischen Urbanität. Zudem lieferten

ihre gigantischen Hochöfen und Walzwerke den Stahl,

den die Sowjetwirtschaft dringend für den rasanten Wan-

del ihrer Schwer- und Rüstungsindustrie brauchte. Als

stählerne Wiege der sowjetischen Industriezivilisation

stellt Magnitogorsk einen Mikrokosmos dar, in dem sich

sowohl die Errungenschaften als auch die Verwerfungen

des ersten Fünfjahresplans beobachten lassen. Die neue

Rüstungsschmiede schöpfte aus dem Vollen und zwar aus

allen Bereichen der Sowjetgesellschaft. Neben einem Heer

an Zwangsarbeitern kamen nicht wenige Freiwillige vol-

ler Enthusiasmus nach Magnitogorsk. Andere versuchten

hier verzweifelt irgendeinen Arbeitsplatz, eine Schlafprit-

sche oder eine Lebensmittelkarte zu ergattern. Magnito-

gorsk wurde damit zum Fluchtpunkt und Überlebensort,

an dem der soziale Untergrund des Sowjetsystems das

Fundament der neuen Welt bilden sollte. Wer sich hierher

begab, wurde sofort in einen Strudel von Technik und Ter-

ror, von Aufbau und Raubbau hinein gesogen.

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Das galt in gleicher Weise für das zwischen 1928 und

1932 an den Stromschnellen des Dnepr’ bei Zaporož’e

errichtete Flusskraftwerk. Dank massiver technologischer

Anschubhilfe aus den USA, Deutschland und Schweden

stellte dieser neue hydroenergetische Gigant das „Wahrzei-

chen der neuen sozialistischen Sowjetukraine“ dar. Wäh-

rend der revolutionäre Furor von Zwangskollektivierung

67 Schlögel (wie Anm. 17), S. 118-132; Stephen Kotkin: Magnetic Mountain.

Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995; Thomas Flierl (Hg.): Standardstädte.

Ernst May in der Sowjetunion 1930–1933. Texte und Dokumente, Berlin 2012;

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre, 1918–1938, München 2014, S. 290–309;

Evgenija Konyševa/Mark Meerovič: Linkes Ufer, rechts Ufer. Ernst May und

die Planungsgeschichte von Magnitogorsk (1930-1933), Berlin 2014; Helmut

Altrichter: Ernst May: Musterstädte in der Sowjetunion, in: Horst Möller u.a.

(Hg.): Deutsch-russische Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Einflüsse

und Wechselwirkungen, München 2016‚ S. 95–106.

und Brachialindustrialisierung damals über die Landschaf-

ten und ihre Bewohner hinwegfegte, wurde das Kraftwerk

mit seinen Dämmen und Kanälen als „Bollwerk des Sozi-

alismus“ zelebriert, das nicht nur die reißenden Fluten des

Dnepr’ bändigte. Vielmehr sollte es sich auch den zerset-

zenden Kräften der Zweifler und Ungläubigen entgegen-

stellen. Der neue Kolossalbau stand als in Stahl und Beton

gegossener Brückenkopf der Industriemoderne dafür, dass

es „keine Festungen“ gäbe, die – so Stalin 1931 – „die Bol-

schewiki nicht einnehmen könnten“.

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Mit den ersten beiden Fünfjahresplänen technisierte,

urbanisierte und proletarisierte sich die Sowjetunion. Die

Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiterschaft ver-

dreifachte sich von 1928 bis 1940 auf 8,4 Millionen, die

des ingenieur-technischen Personals stieg von 119.000

auf 930.000. Ähnliche Zuwachsraten gab es bei Bau-

und Transportarbeitern.

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Die zahlreichen Großbaustel-

len überall im Land wirkten als soziale Schmelztiegel, in

denen alte Überzeugungen und Werte ihre kulturelle Bin-

dekraft verloren, um neue Identitäten formen zu können.

Hier konnten sich Arbeiter und Ingenieure durch ihren

Arbeitseinsatz bewähren, sich als „Erbauer einer lichten

Zukunft“ profilieren und damit zu denjenigen sozialen

Trägerschichten werden, die sich die Kremlbosse sehn-

lichst als erforderliche Machtbasis gewünscht hatten.

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Trotz des entfesselten wirtschaftlichen Wachstums blie-

ben die Kultstätten der stalinistischen Industrialisierung mit

ihren ins Grandiose und Utopische ausgreifenden Dimen-

sionen Orte sowohl des gesellschaftlichen Aufbruchs als

auch der sozialen Abgründe. Während die Arbeiter lernten,

hochmoderne Hochöfen in Betrieb zu nehmen, blieben ihre

Lebensbedingungen äußerst prekär. Es fehlte vor allem an

Wohnraum und an medizinischer Versorgung, aber auch

an Hygiene, Nahrungsmitteln und Massenbedarfsartikeln.

Hinter den verordneten Anstieg der Produktionsraten hatte

die Verbesserung der erbärmlichen Lebenssituation stets

zurückzutreten. Angesichts der weit verbreiteten Gewalt und

Not erwies sich die Sowjetmoderne in ihrer radikalisierten

Variante darum nicht nur als technologisch beeindruckend,

sondern zugleich als sozial und moralisch zurückgeblieben.

68 Anne D. Rassweiler: The Generation of Power. The History of Dneprostroi,

New York 1988.

69 Beyrau (wie Anm. 32), S. 134.

70 Matthew J. Payne: Stalin’s Railroad. Turksib and the Buildung of Socia-

lism, Pittsburgh 2001; Tanja Penter: Kohle für Stalin und Hitler. Arbeiten

und Leben im Donbass 1929 bis 1953, Essen 2010; Julia F. Landau: Wir

bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921-1941,

Stuttgart 2012.

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932