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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
Studien zu bislang vernachlässigten Aspekten der Revoluti-
onsgeschichte vorgelegt und damit zur akademischen Hori-
zonterweiterung beigetragen.
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Die offiziellen Gedenkver-
anstaltungen, die im Auftrag des Präsidentenamts von der
Russischen Historischen Gesellschaft und anderen Organi-
sationen durchgeführt worden sind, zielen allerdings dar-
auf, die Revolution nicht mehr positiv als hoffnungsvollen,
von leidenschaftlicher Sehnsucht nach einer besseren Welt
getragenen Aufbruch darzustellen, sondern vor allem nega-
tiv mit Erschütterung, Kontrollverlust und Unordnung zu
konnotieren. Diese abwertenden Zuschreibungen dienen
zum einen dazu, das Überspringen der postsowjetischen
„Farbrevolutionen“ auf Russland zu verhindern und den
ukrainischen „Majdan“ zum politisch leicht instrumenta-
lisierbaren Feindbild zu erheben. Zum anderen versucht
das Putin-Regime, mit der Diskreditierung der Revolution
sowie seiner unentwegten Selbstinszenierung als Ordnungs-
kraft und Sicherheitsgarant zu kaschieren, dass es ihm als
Sachverwalter der bestehenden Machtverhältnisse sowohl
an jeglicher strategischer Orientierung als auch an einem
attraktiven, zukunftsfähigen Gesellschaftsmodell fehlt.
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Das offizielle, Deutungshoheit beanspruchende Mos-
kauer Geschichtsbild propagiert heute mit Unterstüt-
zung der Russisch-Orthodoxen Kirche die „Entweihung
Lenins“ als deutscher Agent, die „Heroisierung Stalins“ als
erfolgreicher Industrialisierungsmanager sowie die „Sakra-
lisierung Nikolaj. II“ als Märtyrer.
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Dabei fällt auf, dass
in der Erinnerung an das Jahr 1917 die Februarrevolution
mit ihrem demokratischen Aufbruch und Gesellschaftsex-
periment ganz unter die Räder von Politik und Geschichte
geraten ist. Den Protagonisten des Februarregimes habe es
– so die populäre Deutung in Russland – als Marionetten
des Auslands an gesellschaftlichem Rückhalt, taktischem
Geschick und dem starken Willen zur Macht gefehlt.
Daher sei es im Anschluss an den Sturz des Zarismus zum
entfesselten Chaos und zur nationalen sowie imperialen
Krise gekommen. Vor dem Hintergrund aktueller Ereig-
nisse deuten russische Kommentatoren die Februarereig-
97 Ljudmila Novikova: Horizonterweiterung. Zur Historiographie der Russi-
schen Revolution, in: Osteuropa 67 (2017), Nr. 6-8, S. 295-304.
98 Il’ja Kalinin: Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik. Russlands
Regime und der Geist der Revolution, in: Osteuropa 67 (2017), Nr. 6-8,
S. 7-17; Lev Gudkov/Natalija Zorkaja: Instrumentalisieren, Klittern, Ver-
drängen. Russlands unerwünschtes Revolutionsjubliäum, in: Osteuropa 67
(2017), Nr. 6-8, S. 19-42.
99 Ebd., S. 34-38; Margarete Zimmermann: Einheit und Versöhnung. Russ-
lands Orthodoxe Kirche und die Erinnerung an die Revolution, in: Osteu-
ropa 67 (2017), Nr. 6-8, S. 259-262; Philipp Bürger: Ausgelagert in die
„Bad-Bank“. Die Revolution in Russlands Bildungspolitik und Schulbuch,
in: Osteuropa 67 (2017), Nr. 6-8, S. 343-354.
nisse 1917 sogar als „erste Farbenrevolution“. Sie entwer-
fen damit eine negative Traditionslinie, bei der es darum
geht, liberale Werte und Reformen als bedrohlich und
unrussisch zu denunzieren.
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In Weißrussland hingegen gibt es zwar auch eine natio-
nale Lesart der Russischen Revolutionen. Die Erinnerung
an die 1918 kurzzeitig existierende Belarussische Volks-
republik dient der historischen Legitimation der eigenen
Staatlichkeit und der historischen Sinnstiftung. Zugleich
wird aber die alte sowjetische Leseart weiter gepflegt, die
Oktoberrevolution habe Ungleichheit und Unterdrü-
ckung beendet. Das Pathos der Emanzipation und die
Faszination für die sowjetischen Fortschrittsprojekte sind
in Weißrussland längst noch nicht verflogen, obwohl das
autoritäre Lukašenka-Regime die Revolution aus dem
Bereich des politisch Möglichen ins Reich der Geschichte
verbannt wissen will.
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In der Ukraine lässt sich gleichfalls eine Nationalisie-
rung der Revolutionsgeschichte beobachten. Die damali-
gen ersten ukrainischen Staatsbildungsversuche erhalten
mittlerweile die größte Aufmerksamkeit. Viele Kom-
mentatoren erkennen Parallelen zwischen dem Revoluti-
onsjahr 1917 und der „Revolution der Würde“ auf dem
Majdan 2013/14. In beiden Fällen sei es um das Streben
nach nationaler Selbstbestimmung sowie um den Kampf
für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte gegangen.
Der ukrainische Diskurs betont darum nicht allein das
Gewalt-, sondern verstärkt auch das Emanzipationspoten-
tial der Revolution. Es gelte, das sowjetische Erbe durch
eine konsequente „Dekommunisierung“ zu entsorgen
und die Ukraine mit ihren nationalen Freiheitstraditionen
in die gesamteuropäische Revolutionsgeschichte einzu-
schreiben.
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Die aktuelle Instrumentalisierung der Revolutions-
erfahrung überzieht sowohl in Russland als auch in der
Ukraine. Weder in ihrer politischen Reichweite noch in
ihrem visionären Weitblick können die „Farbrevolutio-
nen“ und der „Arabische Frühling“ sinnvoll auf Augen-
höhe zu den Revolutionen des Jahres 1917 gebracht wer-
100 Makhotina (wie Anm. 95), S. 228 f. Einzig die mittlerweile politisch mar-
ginalisierten liberalen Parteien sehen heute in Russland in der Febru-
arrevolution ein positives historisches Erbe. Vgl. Andrej Linčenko/Daniil
Anikin: Revolution schlecht, Tradition gut. Russlands Parteien und die
Oktoberrevolution, in: Osteuropa 67 (2017), Nr. 6-8, S. 371-382.
101 Aleksej Bratočkin: Hybride Erinnerung in Belarus. Eine Literaturschau zur
Oktoberrevolution, in: Osteuropa 67 (2017), Nr. 6-8, S. 305-322.
102 Tatiana Zhurzhenko: Neuerfindung und Entsorgung. Ukraine: Die Revo-
lution 1917 im Lichte des Majdans, in: Osteuropa 67 (2017), Nr. 6-8, S.
273-290.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932