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Einsichten und Perspektiven 1 | 18

lektuelle einschloss.“

105

Viele Völker hörten die Signale,

die von Moskau als der Welthauptstadt des Sozialismus

und dem neuen machtpolitischen Gravitationszentrum

ausgingen. Der Kreml stilisierte sich zum Beschützer der

Entrechteten und Unterdrückten; die sowjetischen Par-

teiführer riefen unermüdlich die kolonisierten Länder

zur Auflehnung gegen die „Hegemonie des kapitalistisch-

imperialistischen Westens“ auf. Viele glaubten tatsäch-

lich, aus der Oktoberrevolution und dem anschließenden

Aufbau des Sozialismus erfolgversprechende Strategien

und Praktiken der politischen Machteroberung ableiten

zu können. „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen

lernen“ – der in der DDR verkündete Slogan blieb kei-

neswegs nur ein Kalauer. Der sowjetische Parteistaat und

seine Planwirtschaft wurden zum Exportschlager einer

„Red Globalization“

.

106

Insgesamt zählen heute Historiker

36 Staaten, die in ihrer Geschichte zeitweise eine sozia-

listische Regierung hatten (bzw. noch haben). Auf sei-

nem Höhepunkt gegen Ende der 1970er Jahre bestand

das sozialistische Weltlager aus insgesamt 16 Staaten, von

denen sich die Mehrheit nach 1989 jedoch – vor allem

im östlichen Europa – vom Sozialismus verabschiedete.

107

Noch heute lebt aber weiter ein Fünftel der Mensch-

heit in der Welt des Kommunismus. Die für sie typischen

repressiven Herrschaftsstrukturen, die Formen einer

hochkonzentrierten, staatlich gesteuerten Wirtschafts-

expansion und die wolkigen Zielvorstellungen von einer

„Großen Gemeinschaft“ sind keineswegs im Orkus der

Geschichte verschwunden.

108

Vor allem der in China prak-

tizierte „Kommunismus 4.0“ belegt eindrucksvoll, dass

trotz des im Kalten Krieg allseits gepflegten unversöhnli-

chen Wettstreits der Ideologien „zwischen Kommunismus

und Kapitalismus keine chinesische Mauer [liegt].“ Chi-

nas gegenwärtig viel bewunderte, wachstumsgetriebene

Modernität „stellt die Formel vom ‚Ende des Kommunis-

mus‘ genauso in Frage wie zugleich auch die axiomatische

Verknüpfung einer ‚freien Wirtschaft‘ mit einer ‚liberalen

Gesellschaft‘“.

109

105 Tobias Rupprecht: Die Russische Revolution und der globale Süden, in:

Aus Politik und Zeitgeschichte, 36-36/2017, S. 21-26, hier S. 21.

106 Oscar Sanchez-Sibony: Red Globalization. The Political Economy of

the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, Cambridge 2014; To-

bias Rupprecht: Soviet Internationalism after Stalin. Interaction and

Exchange between the USSR and Latin America during the Cold War,

Cambridge 2015.

107 Archie Brown: Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009, S. 1 u. 6 f.

108 Ebd., S. 19 u. 805 ff.

109 Koenen (wie Anm. 16), S.1015-1022, Zitate auf S. 1021.

Und auch in Russland sind Oktoberrevolution und

Sozialismus keineswegs vom Antlitz der Erde verschwun-

den. 1991 ging wohl das erste rote Imperium zu Ende,

weil „dessen Zeit abgelaufen war“, aber keineswegs die

sowjetische Geschichte. Die Sowjetunion war – so Karl

Schlögel – weit mehr als nur „ein politisches System mit

datierbarem Anfang und Ende“. Sie war „eine Lebens-

form“ und eine „Zivilisation“. Als deren materielle Trüm-

mer und ideelle Splitter hinterlassen bis heute „Sprachen,

der Stil von Verwaltungs- und Schulgebäuden, Infrastruk-

tur, Bildungswege und Biographien, Hass auf oder sen-

timentale Anhänglichkeit an die Herren von einst“ ihre

Spuren in der postsowjetischen Welt.

110

Anders als Trotzkij 1924 stolz prognostiziert hatte, ent-

stand im Anschluss an den Roten Oktober kein „sozia-

listischer Übermensch“. Allerdings blieben die Umerzie-

hungsbemühungen des Parteistaats nicht wirkungslos.

Die zentralistische Konstruktion von Gesellschaft führte

– wie z.B. der Moskauer Soziologe Jurij Levada sozialwis-

senschaftlich begründete und die weißrussische Litera-

tur-Nobelpreisträger Svetlana Aleksijevič in ihrer Doku-

mentationsprosa darlegt – dauerhaft zur Ausprägung

bedeutsamer Persönlichkeitsstrukturen.

111

Ihre vier Schlüs-

selmerkmale sind „erzwungene Selbstisolation, staatlicher

Paternalismus, egalitaristische Hierarchie, imperiales Syn-

drom“.

112

Diese entsprechen zwar keineswegs den Idealen

der Oktoberrevolution, entsprangen aber doch der durch

sie geschaffenen gesellschaftlichen Realitäten. Vom sozia-

listischen System zunehmend korrumpiert und demorali-

siert, wandelte sich der „Homo Sovieticus“ vom anfäng-

lichen Enthusiasten schließlich zum Opportunisten, der

auch nach 1991 die Kainsmale des sowjetischen Autorita-

rismus keineswegs zu überwinden vermag, sondern diese

im Dauerbeschuss nationalpatriotischer Propaganda nur

weiter reproduziert. Die über politische Zäsuren hinweg

scheinbar ungebrochene Untertanenkultur wirft die Fra-

gen auf, inwieweit der aktuelle „Homo Putinicus“

113

auf

den problematischen Ablagerungen der Sowjetära im

Innenleben der russischen Menschen fußt und ob neben

110 Schlögel (wie Anm. 17), S. 20 ff.

111 Juri Lewada: Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zer-

falls, Berlin 1992; Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf

den Trümmern des Sozialismus, München 2013; Lev Gudkov: Wahres

Denken. Analysen, Diagnosen, Interventionen, Berlin 2017.

112 Lewada (wie Anm. 111), S. 26 .

113 So die griffige Formulierung von Igor Eidman: Die Russen werden sich

nicht ewig ducken, in. NZZ, 22.11.2016, vgl.

https://www.nzz.ch/mei-

nung/kommentare/aufstieg-und-fall-des-homo-putinicus-die-russen-

werden-sich-nicht-ewig-ducken-ld.129623 [Stand: 20.01.2018].

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932