37
Einsichten und Perspektiven 1 | 18
„Höher das Banner von Marx, Engels, Lenin und Stalin!“, Plakat von Gustaw G. Klucis aus dem Jahr 1936
Foto: ullstein/Elizaveta Becker
dem US-Kongress im Juni 1992, die Oktoberrevolu-
tion habe mit dem „Idol des Kommunismus […] über-
all sozialen Hader, Hass und beispiellose Brutalität
verbreitet und die Menschheit mit Furcht erfüllt.“
92
Dieser Wechsel der politischen Vorzeichen verdeutlicht,
warum der Revolutionsfeiertag des 7. Novembers
93
nach
dem Zerfall des Sowjetimperiums im politischen Festka-
lender zunehmend an Bedeutung verlor. Zunächst 1996 in
„Tag der Aussöhnung und Eintracht“ umbenannt, wurde
der Gedenktag in Russland dann 2004 auf den 4. Novem-
ber vorverlegt und damit nicht mehr auf den Roten Okto-
ber, sondern auf den Sieg über die „polnisch-litauischen
Interventionisten“ im Jahr 1612 bezogen, um damit den
Heldentum und die Geschlossenheit des Volkes zu rüh-
men. Nationalpatriotische Harmonie ersetzt seitdem den
vorher gepriesenen revolutionären Klassenkampf.
94
Statt
des Umsturzes eines längst überlebten Regimes wird des
militärischen Triumphs über äußere Feinde gedacht. Ganz
im Dienst der von Putins Polittechnokraten verfügten
92 Zit. n. Pipes (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 819.
93 Im 1917 geltenden alten Kalender war das der 25. Oktober.
94 Zum Wechsel der Feiertage vgl. Jan Plamper: Erinnerung und Verdrängung
der Revolution in Russland – zwischen Märtyrologie, Konspirologie und
starkem Staat, in: Jan Claas Behrends/Nikolaus Katzer/Thomas Linden-
berger (Hg.): 100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen
Revolution, Berlin 2017, S. 279–294, hier S. 279-283.
historischen Sinnstiftung gilt nicht mehr „Befreiung“,
sondern vielmehr „Versöhnung“ als die zentrale Botschaft
des Jahres 1917, um damit der russischen Bevölkerung
die Lust auf Revolte zu nehmen und ihren Glauben an
die Notwendigkeit einer starken Staatlichkeit zu festigen.
In der antirevolutionären Revolutionserinnerung tritt der
Konsenszwang an die Stelle einer politischen Streitkultur
und eine stagnierende Stabilität an die Stelle von Wan-
del.
95
Zwar gibt es im russischen Internet und in einzelnen
Städten interessante gesellschaftliche Initiativen, um das
Gedenken an das Jahr 1917 für eine kritische Auseinan-
dersetzung mit der eigenen Geschichte zu nutzen.
96
Zudem
haben einige russische Historiker international beachtete
95 Den politischen Ausdruck fand dieser verordnete Versöhnungsdiskurs
in dem im November 2017 eingeweihten „Denkmal der Versöhnung“ in
Sevastopol‘ auf der annektierten Halbinsel Krim. Dort war es im Bürger-
krieg 1920 zu heftigen Gefechten und Massakern gekommen. Ähnliche
Versöhnungsdenkmale gibt es in Krasnodar, Novorossijsk, Novočerkassk,
Irkutsk und St. Petersburg. Vgl. Ekaterina Makhotina: Keine Experimente.
Russlands Geschichtspolitik und die Revolution, in: Osteuropa 67 (2017),
Nr. 6-8, S. 211-230, hier. S. 225 f.
96 Die Unsicherheit im Umgang mit dem heiklen Gedenkjahr 1917 verdeut-
licht am Beispiel von Museumsausstellungen Kristiane Janeke: Revolution
im Museum 1917-2017. Heikles Gedenken in Russland, in: Osteuropa 67
(2017), Nr. 6-8, S. 323-341. Zum fragmentierten und widersprüchlichen
Geschichtsbewusstsein vgl. Anna Schor-Tschudnowskaja: Fragmente der
Erinnerung. Zum historischen Bewusstsein junger Russen, in: Osteuropa
67 (2017), Nr. 6-8, S. 355-370.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932