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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
den. Sicherlich vermittelten die Regimewechsel der letzten
Jahre die Hoffnung, endlich den Weg für einen Neuan-
fang frei zu machen, bevor sie in den Widrigkeiten des
politischen Alltagslebens und angesichts massiver Wider-
stände ihre Umgestaltungskraft dann schnell verloren. Als
vor allem nachholende Revolutionen fehlte ihnen jedoch
der Zauber, ein grundsätzlich neues Gesellschaftsprojekt
für das 21. Jahrhundert ins Leben zu rufen und damit den
Anspruch erheben zu können, einen welthistorischen Ein-
schnitt zu markieren.
Zum Schluss: Der historische Ort
Kürzlich stellte die einflussreiche Osteuropa-Historike-
rin Sheila Fitzpatrick fest, die neuere Forschung beschreibe
die Oktoberrevolution keineswegs mehr als notwendig
und unvermeidbar, um sie als mehr oder weniger zufäl-
lige Episode der Geschichte ihrer Größe zu berauben.
103
103 Sheila Fitzpatrick: What’s Left?, in: London Review of Books, 7/2017,
S. 13-15. Von einer „fading memory“ spricht Steinberg (wie Anm. 28),
S. 350.
Freilich zweifelt heute niemand weiterhin daran, dass im
Jahr 1917 in enger Verbindung mit den Folgen des Ersten
Weltkriegs das „lange 19. Jahrhundert“ zu Ende ging und
mit dem „kurzen 20. Jahrhundert“ (1917/8-1989/91) das
neue „Zeitalter der Extreme“ begann.
104
Der Rote Okto-
ber stellt unverändert eine Epochenscheide dar; er führte
zum Aufbau einer neuartigen Weltanschauungsfront. Sie
manifestierte im Kalten Krieg schließlich eine über 50
Jahre fortdauernde Zweiteilung der Welt. In den heißen
Eskalationsphasen des Ost-West-Konflikts blickte die
Menschheit wiederholt in den Abgrund der gegenseitig
gesicherten Vernichtung.
Der Horror und die Faszination, die von der Oktober-
revolution ausgingen, ließen im 20. Jahrhundert kaum ein
Land unberührt. Es entstand die „erste globale politische
Massenbewegung, die Menschen verschiedenster Ethnien
und Kulturen, Männer wie Frauen, Arbeiter wie Intel-
104 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahr-
hunderts, München 1997, S. 114.
Demonstranten während der „orangenen Revolution" in Kiev, November 2004
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Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932