Table of Contents Table of Contents
Previous Page  32 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 32 / 80 Next Page
Page Background

32

Einsichten und Perspektiven 1 | 18

Der erste Fünfjahresplan markierte auch einen tiefen

Einschnitt in der Geschichte des sowjetischen Strafvoll-

zugs- und Lagersystems. Im Jahr 1934 gab es in der Sow-

jetunion schon mehr als eine halbe Million Häftlinge, weil

sowohl kleine Vergehen als auch (vermeintliche) politische

Unzuverlässigkeit jahrelange Lagerhaft und Zwangsarbeit

nach sich zogen. Bis 1938 sollte die Gesamtzahl der sowje-

tischen Strafgefangenen dann auf fast zwei Mio. ansteigen.

Der berüchtigte stalinistische Lagerkomplex nahm Gestalt

an. Für dessen Administration wurde 1934 die „Haupt-

verwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien“ ins

Leben gerufen. Unter dem Kürzel GULag entwickelte sich

dieser Terrorapparat durch die rücksichtslose Nutzung von

Zwangsarbeit zu einem bedeutenden Bau- und Wirtschaft-

simperium. Seine Leiter und ihre Helfershelfer ließen sich in

Form eines bekennenden Terrors ungeniert als „Volkserzie-

her“ und Sozialpädagogen feiern, die vermeintliche „Schäd-

linge“ zu „neuen Menschen umschmieden“ könnten.

Als das erste große Bauvorhaben der Lagerwirtschaft

erlangte der während der Jahre 1931-33 im hohen Norden

des europäischen Russlands fertig gestellte Weißmeer-Ost-

see-Kanal (

Belomorkanal

) traurige Berühmtheit. 170.000

GULag-Häftlinge mussten dieses ökonomisch unsinnige

Bauwerk unter menschenunwürdigen Bedingungen errich-

ten. Wenigstens ein Viertel, wenn nicht sogar ein Drittel

von ihnen verstarb am kräfteraubenden Arbeitseinsatz. In

Anschluss daran stellte der GULag das „Arbeitskräftefond“

für den Moskau-Wolga-Kanal, der 1937 mit großem Pomp

eröffnete wurde. Obwohl die Effektivität der Zwangsarbeit

fraglich blieb, bezogen die Parteibosse fortan die insge-

samt 18 Mio. GULag-Häftlinge, die zwischen 1928 und

1956 den Hades der sowjetischen Industriezivilisation

durchlebten mussten, rücksichtslos in ihre ambitionierten

Industrialisierungs- und Erschließungspläne ein. Der erste

Fünfjahresplan, die Kolonisierung der Peripherien und die

expandierende Lagerwelt verschmolzen zu einem repressi-

ven politischen und ökonomischen System, das den Kern

dessen ausmachte, was die historische Forschung heute als

Stalinismus bezeichnet.

66

Brückenköpfe des Sozialismus im „industrialisierten

Neandertal“

Zentraler Meilenstein der sowjetischen Brachialindustri-

alisierung war auch Stalins Industriefestung im Südural, die

in der Steppe Anfang der 1930er Jahre neu aus dem Boden

gestampften Stahlmetropole Magnitogorsk. Sie sollte als

beeindruckendes Gebilde aus einem Guss den unbändigen

Expansionswillen und die raumerschließende Dynamik der

neuen sozialistischen Industriezivilisation veranschaulichen.

66 Zur Geschichte des GULag vgl. Schlögel (wie Anm. 17), S. 118-159;

Dietrich Beyrau: GULAG – die Lager und das Sowjetsystem, in: Sowi 29

(2000), S. 166–176; Anne Applebaum: Der Gulag, Berlin 2003; Klaus Ge-

stwa: Auf Wasser und Blut gebaut. Der hydrotechnische Archipel GULag,

1931–1958, in: Osteuropa 57 (2007), Nr. 6, S. 239–266; Julia Landau/Irina

Scherbakowa (Hg.): Gulag: Texte und Dokumente 1929 – 1956, Göttin-

gen 2014; Felicitas Fischer von Weikersthal/Karoline Thaidigsmann (Hg.):

(Hi-)Stories of the Gulag. Fiction and Reality, Heidelberg 2016; Michael

David-Fox (Hg.): Soviet Gulag. Evidence, Interpretation, and Comparison,

Pittsburgh 2016.

Bau eines Hochofens in

Magnitogorsk , 1931

Foto: ullstein/Archiv Gerstenberg

Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932