22
Einsichten und Perspektiven 1 | 18
als räuberische Instanz wahr, die fortan nur forderte, aber
nichts mehr gewährte.
20
Diese Zwangsmobilisierung materieller und sozialer
Ressourcen stützte sich vor allem auf die Tscheka, der
als „bewaffneter Arm der Diktatur des Proletariats“ die
Aufgabe zufiel, nicht mehr nur die politische Opposition
auszuschalten und landesweit das Machtmonopol der
bolschewistischen Partei durchzusetzen, sondern darüber
hinaus mit der Organisation großer Terrorkampagnen den
Gehorsam der Bevölkerung zu erzwingen. Infolgedessen
stieg die Zahl der bei diesem geheimdienstlichen Appa-
rat angestellten Mitarbeiter im Verlauf des Bürgerkriegs
rasant an. Schon Ende 1918 betrug ihre Zahl 40.000, die
sich bis 1921 auf schließlich 137.000 Personen erhöhte.
21
Alle bestehenden Gerichtsinstitutionen hatten die Bol-
schewiki aufgelöst und durch von Laien geleitete „Revo-
lutionäre Tribunale“ ersetzt. Deren Mitglieder sollten sich
nicht an bestehende Gesetze halten, sondern allein nach
ihrem „revolutionären Gewissen und Rechtsbewusstsein“
entscheiden. Das bereitete oftmals der Lynchjustiz den
Weg. Die Rechtsprechung verkam zur Farce; einen fairen
Prozess konnte niemand mehr erwarten, vor allem dieje-
nigen nicht, die wegen ihrer sozialen Herkunft als gefähr-
liche „Ehemalige“ und damit als potentielle „Volksfeinde“
stigmatisiert wurden.
22
Mit radikaler Deutlichkeit forderte Lenin 1918 „die
Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer“ und
legte zugleich eine lange Liste von „Schädlingsgruppen“
vor. Jeder Zehnte dieser „Sozialparasiten“ sei zu erschießen,
die anderen zu harter, diskriminierender Arbeit heranzuzie-
hen.
23
Diese politische Erbarmungslosigkeit brachte Gri-
gorij Zinov’ev, der Parteichef von Petrograd und Mitglied
des inneren Führungszirkels im Kreml, dann im September
20 Pipes (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 627-678; Orlando Figes: Peasant Russia, Ci-
vil War. The Volga Countryside in Revolution (1917-1921), Oxford 1989;
Markus Wehner: Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfra-
ge als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921–1928, Köln
1998; Stefan Karsch: Die bolschewistische Machtergreifung im Gouver-
nement Voronež, 1917-1919, Stuttgart 2006, S. 100-333; Aaron B. Retish:
Russia’s Peasants in Revolution and War. Citizenship, Identity, and the
Creation of the Soviet State, 1914–1922, Cambridge 2008.
21 Beyrau (wie Anm. 6), S. 219-223; Richard Pipes: Russische Revolution. Bd.
2: Die Macht der Bolschewiki, Berlin 1992, S. 751-840; Nicolas Werth: Ein
Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjet-
union, in: Stéphane Courtois (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus.
Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich 1997, S. 51–298,
hier S. 67–94; Christopher Reed: War and Revolution in Russia, 1914-
1922, New York 2013, S. 174-179.
22 Matthew Rendle: Revolutionary Tribunals and the Origins of Terror in Ear-
ly Soviet Russia, in: Historical Research 84 (2011), S. 693-721.
23 Zit. n. Koenen (wie Anm. 16), S. 764 ff.
1918 in brutaler Offenheit auf den Punkt. In einem Zei-
tungsartikel forderte er ungeniert „unseren eigenen sozialis-
tischen Militarismus“, um „von der einhundert Millionen
zählenden Bevölkerung Sowjetrusslands 90 Millionen mit
uns nehmen zu können. Was den Rest angeht, so haben wir
ihm nichts zu sagen. Er muss vernichtet werden.“
24
Aus diesen Worten spricht eine völlige Enthemmung der
politisch Verantwortlichen. Als moralische Urkatastrophe der
Sowjetgeschichte entwickelte sich der Bürgerkrieg zur Schule
der Gewalt. Das verstärkte die Wahnvorstellungen der neuen
Machthaber, die sich mit einer Welt voller inneren und äuße-
ren Feinde konfrontiert sahen, deshalb das Militante und
Kämpferische der Zeit verherrlichten und sich für den par-
teistaatlichen Terror als Allheilmittel der Politik begeisterten.
Die Sowjetpropaganda erhob den Bürgerkrieg bald neben
der Oktoberrevolution zum zweiten Gründungsmythos, um
eine Belagerungsmentalität zu vermitteln und, mit dem Ver-
weis auf die permanente Kriegsgefahr, die Bevölkerung zu
mobilisieren und den ihr auferlegten Entbehrungen einen
höheren politischen Sinn zuzuschreiben.
25
Dank ihrer immer besser organisierten, aber auch immer
brutaler vorgehenden Disziplinar- und Militärmacht
gelang es den Bolschewiki zwar, selbst höchst bedrohliche
Kriegssituationen zu überstehen. Allerdings schafften sie
es nicht, mit den primitiven wirtschaftlichen Lenkungs-
und Verteilungsmechanismen des „Kriegskommunismus“
eine sozialistische Wirtschaft aufzubauen. Angesichts der
durch massive materielle und seelische Verwüstungen rui-
nierten und verrohten Gesellschaft stellte sich der mili-
tärische Triumph bald als Pyrrhussieg heraus, der den
Sowjetstaat auf seinem Weg zum modernen Industrie-
und Arbeiterstaat weit zurückwarf. Das Wirtschaftsauf-
kommen fiel bis 1921 auf nur noch knapp ein Drittel des
Vorkriegsniveaus von 1913. Die Bevölkerungszahl Petro-
grads sank von vormals zwei Mio. im Revolutionsjahr auf
nur noch 700.000. Die offiziellen Lebensmittelrationen
beliefen sich dort bald auf weniger als 1.000 Kalorien pro
Kopf, was zum Überleben bei weitem nicht ausreichte.
Auch Moskau und andere Industriestädte entvölkerten
24 Zit. n. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus,
München 2003, S. 38.
25 Beyrau (wie Anm. 6), S. 287-304; Schnell (wie Anm. 12), S. 402-427; Shei-
la Fitzpatrick: The Civil War as a Formative Experience, in: Abbot Gleason/
Peter Kenez/Richard Stites (Hg.): Bolshevik Culture. Experiment and Order
in the Russian Revolution, Bloomington 1985, S. 57-76; dies.: The Legacy
of the Civil War, in: Diane Koenker/William G. Rosenberg/Ronald G. Suny
(Hg.): Party State and Society in Russian Civil War, Bloomington 1989,
S. 385-389; Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Ge-
walt, München 2012, S. 78-81; Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne.
Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main 2006, S. 125-140.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932