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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
sich. Zahllose Arbeiter bäuerlicher Herkunft kehrten den
Fabriken den Rücken, verbunden mit der Hoffnung, sich
in ihren Heimatdörfern besser versorgen zu können. Die
schon vorher nicht besonders große Arbeiterklasse, in
deren Namen die Bolschewiki meinten, den Sozialismus
aufzubauen, schrumpfte weiter zusammen. Die von Lenin
und seinen Getreuen ausgerufene „Diktatur des Proletari-
ats“ drohte zu einer Diktatur ohne Proletariat zu werden.
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Die sich während der Bürgerkriegsjahre permanent zuspit-
zende Notlage fand ihren traurigen Höhepunkt schließlich
1921/22, als es – auch bedingt durch eine lange Dürreperi-
ode in den südlichen Agrargebieten – zu einer Hungerkatas-
trophe kam. In dem Land, das 1913 noch der weltführende
Getreideexporteur gewesen war, griff Kannibalismus um
sich. Die Hungersnot, unter der 30 Mio. Menschen litten,
forderte bis zu fünf Mio. Opfer, löste weltweit Entsetzen aus
und führte zu großen internationalen Hilfsaktionen.
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Angesichts der prekären Versorgung, der ausufernden
Kriminalität und der politischen Verfolgung lebten die
Menschen fast überall im Sowjetstaat in Furcht und Not.
Das war nicht die Revolution, für die viele gekämpft und
in die sie so große Hoffnung gesetzt hatten.
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Typisch für
die große Enttäuschung ist das Wutschreiben eines Rot-
armisten, der Lenin direkt ansprach und ihn als „blut-
rünstige Bestie“ und „Blutsauger“ bezeichnete, der die
Revolution gekapert habe, um seine Machtinteressen
brutal durchzusetzen. „Statt die Gefängnisse in Schulen
zu verwandeln, sind sie heute voller unschuldiger Opfer.
Statt die Erschießungen zu verbieten, hast Du den Terror
organisiert, und täglich werden Tausende Menschen mit-
leidslos erschossen. Du hast die Industrie zum Stillstand
gebracht, so dass die Arbeiter hungern und die Menschen
keine Schuhe und keine Kleider mehr haben.“
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26 Zu den verheerenden Folgen des Bürgerkriegs vgl. Dietmar Neutatz:
Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert.
München 2013, S. 168-170; Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom
Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017, S. 194-201.
27 Bertrand Patenaude: The Big Show in Bololand. The American Relief Expe-
dition to Soviet Russia in the Famine of 1921, Stanford 2002; Felix Wem-
heuer: Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao, Berlin 2012,
S. 25-61; Sean McMeekin: The Russian Revolution. A New History, London
2017, S. 321-334; Igor’ Narskij: Die multiethnische Bevölkerung des Urals
in der Hungersnot von 1921/22, in: Alfred Eisfeld/Guido Hausmann/Dietmar
Neutatz (Hg.): Hungersnöte in Russland und in der Sowjetunion 1891-1947.
Regionale, ethnische und konfessionelle Aspekte, Essen 2017, S. 67-94.
28 Jonathan Aves: Workers Against Lenin. Labour Protest and the Bolshevik
Dictatorship, London 1996; Simon Pirani: The Russian Revolution in Re-
treat, 1920-24. Soviet Workers and the new Communist Elite, New York
2008, S. 19-137; Mark D. Steinberg: The Russian Revolution 1905-1921,
Oxford 2017, S. 101-113.
29 Zit. n. Smith (wie Anm. 5), S. 95.
Allein im Januar 1921 traten über 5.000 enttäuschte
Soldaten und Arbeiter aus der Partei der Bolschewiki aus.
Einen Monat später eskalierte der wachsende Unmut im
Aufstand der Kronstädter Matrosen, die Trotzkij wegen
ihres Einsatzes für die Bolschewiki zuvor als „den Stolz und
die Freude der Revolution“ gelobt hatte. Die Rote Armee
schlug die Matrosenrebellion nach drei Wochen blutig nie-
der und nutzte die Situation sogar für Massenverhaftungen
von Frauen und Minderjährigen. Die Internierungs- und
Konzentrationslager der Bolschewiki füllten sich. Auch die
Oktoberrevolution begann nun, „ihre Kinder zu fressen“.
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Die Neue Ökonomische Politik (NEP) 1921-1928
Mit ihrem harten Durchgreifen in Kronstadt mach-
ten Lenin und seine Parteigänger deutlich, dass sie nicht
davor zurückscheuten, jede Infragestellung ihrer Macht
mit äußerster Brutalität zu bekämpfen. Sie mussten sich
im Frühjahr des Jahres 1921 aber auch eingestehen, dass
30 Figes (wie Anm. 10), S. 800–810; Jan Kusber: Kleine Geschichte Peters-
burgs, Regensburg 2009, S. 128 ff.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932
„Erinnere Dich an die Hungernden", Plakat aus dem Jahr 1921/22
Foto: sz-photo