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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
Das Versagen der Provisorischen Regierung schuf die politischen Vorausset-
zungen dafür, dass inmitten des in Petrograd herrschenden Machtvakuums
die straff organisierte, von charismatischen Führern wie Lenin und Trotzkij
geleitete Kampfpartei der Bolschewiki Ende Oktober 1917 mit einem Umsturz
die Staatsgewalt erobern konnte. Die später von der sowjetischen Propaganda
zum Mythos erhobene Oktoberrevolution richtete sich gegen Autoritäten, die
in den Augen vieler Arbeiter, Bauern und Soldaten politisch versagt hatten und
deshalb die Schuld an Abhängigkeit, Demütigung und Rückständigkeit trugen.
Ihre zunächst ohne größere Gegenwehr errungene Herrschaft sicherten die roten
Putschisten durch die vorübergehende Koalition mit den linken Sozialrevolutio-
nären, um mit einem wahren Feuerwerk an vollmundigen Dekreten den Eindruck
zu vermitteln, auf die brennenden Fragen der Zeit endlich Antworten zu geben,
die vielen damals als zukunftsweisend und verheißungsvoll erschienen.
Die Bolschewiki setzten aber nicht nur auf die Kraft
kühner Visionen, sondern auch auf die „Diktatur des Pro-
letariats“ und die damit verbundene Ausübung politischer
Gewalt. Anfang Dezember 1917 wurde der geheimdienst-
liche Unterdrückungsapparat der Tscheka eingerichtet, um
mit dem von der Parteiführung selbst ausgerufenen „roten
Terror“ zunächst gnadenlos gegen die konservative sowie
liberale Opposition und im Sommer 1918 dann auch gegen
die Sozialrevolutionäre vorzugehen. Deren linker Flügel
hatte schon nach einem halben Jahr Regierungsmitarbeit
das politische Bündnis mit den Bolschewiki aufgekündigt.
1918: Krieg, Revolutionen und das Ende der altenWelt
Während des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts stellte
die revolutionäre Politik in Russland bei weitem keinen
Einzelfall dar. Sie passte in den allgemeinen Zeithinter-
grund einer weltweiten Krisensituation. Während dieser
„dritten Welle der Revolution“ verschwanden einige der
ältesten und machtvollsten Staatsorganisationen von der
historischen Bildfläche, um neuen Ordnungen Platz zu
machen. Dabei ordnet sich der russische Revolutionszy-
klus zum einen in die „eurasischen Revolutionen“ nach
1900 ein, die auch den Iran, China und die Türkei erfass-
ten; zum anderen ist er im Zusammenhang mit den „
Fin-
de-Siècle-
Revolutionen“ in Europa zu sehen.
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1 Zum globalen Revolutionscluster zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Jür-
gen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.
Jahrhunderts, München 2009, S. 798-817.
Auch wenn es bei diesen Umbrüchen bedeutsame län-
derspezifische Besonderheiten gab, so handelte es sich in
allen Fällen um Revolutionen gegen Autokratien alten
Stils, deren Herrscher sich längst nicht mehr im Ein-
klang mit den großen Tendenzen ihrer Zeit befanden.
Der Aufstieg der Industriemoderne mit ihren neuen
Formen der Massenproduktion, des Massenkonsums
und der Massenpolitik erzeugte, ausgehend von Nord-
amerika und Westeuropa, einen enormen Transforma-
tionsdruck und schuf ein großes Repertoire neuer poli-
tischer Möglichkeiten, um mit der Rebellion gegen das
Überholte und mit dem „Pathos des Neubeginns“
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die Welt auf neue Weise einzurichten.
Zudem hatte der Erste Weltkrieg die Grundfesten der
europäischen Imperien erschüttert. Während die über-
seeischen Kolonialreiche noch nicht stürzten, führten die
Kriegswirren in enger Verbindung mit dem immer stür-
mischeren Aufstieg der Nationalbewegungen dazu, dass
neben dem Deutschen Reich auch die drei alten konti-
nentalen Vielvölkerimperien des Osmanischen, des Öster-
reich-Ungarischen und des Russischen Reiches zusam-
menbrachen. Durch diese tiefgreifenden Veränderungen
geriet die Welt in Aufruhr und ihre Ordnung ins Wan-
ken. Nach dem Ende der Imperien stellte Europa „einen
in Stücke geschlagenen Kontinent“
3
dar, dessen politische
2 Hannah Arendt: Über die Revolution, München 1968, S. 41.
3 Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 135.
Der Russische Revolutionszyklus, 1905-1932, Teil 4: Geschehnisse 1918-1932