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Einsichten und Perspektiven 1 | 18
Frontdienst – Heimatdienst – politische Bildung – Ein Jahrhundert Reichszentrale für Heimatdienst
Osten? Ist‘s klug, immer wieder daran zu rühren und alte
Wunden zum Bluten und Brennen zu bringen, anstatt
den Schlußstrich endlich zu ziehen unter das Kapitel ‚Ver-
sailles‘ und kraftvoll und mutvoll nur der Gegenwart zu
leben und für die Zukunft zu arbeiten? […] Es hat sich
bitter gerächt in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands,
daß weite Kreise nur zu schnell bereit waren, die preußi-
sche und die deutsche Vergangenheit aus dem Buche der
Geschichte zu streichen. Die Vergangenheit läßt sich nicht
auslöschen; gerade dann, wenn man meint, sie überwun-
den zu haben, hebt sie mahnend und fragend ihr Gesicht
aus dem Grau der Alltäglichkeit: ‚Hast Du vergessen‘?
Nein! Wir vergessen die Zeit nach Versailles nicht, wir
können sie nicht vergessen, wir Leute hier im Osten, weil
ihre Geschichte für uns geschrieben ist mit dem Herzblut
unserer ostmärkischen Heimatliebe und weil für Tausende
von uns über der Geschichte dieser Zeit die Inschrift steht:
‚Verlorene Heimat.‘ Ob Jahr um Jahr darüber hinweggeht
- die Grenze blutet, weil unser Herz blutet -, aber mehr
noch! Die Grenze brennt, weil unser Herz brennt in hei-
ßem Groll, aber auch in heißer Liebe.“
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Der Vergleich des Deutschen Reiches nach Ende des
Ersten Weltkrieges mit einem „blutenden Organismus“,
dessen Grenzen und dessen Menschenherzen bluteten,
zeugt von enormem nationalistischem Pathos, das damals
offenbar als legitimes sprachliches Mittel der politischen
Bildung empfunden wurde. Die rhetorische Frage, ob man
die alten Wunden denn immer wieder zum Bluten und
Brennen bringen solle, beantwortet der Artikel mit dem
Hinweis darauf, dass es ein Fehler gewesen sei, sich in der
Nachkriegszeit zu wenig gegen die neuen Grenzziehun-
gen gewehrt zu haben. Die „preußische und die deutsche
Vergangenheit“ dürfe, so die politische Handlungsemp-
fehlung aus Perspektive des Reichsheimatdienstes, nicht
„aus dem Buche der Geschichte“ gestrichen werden. Der
Artikel bedient sich des Frames eines „blutenden Organis-
mus“ und evoziert heftige Emotionen in Anbetracht der
lebensbedrohlichen Verletzungen des „Volkskörpers“, um
revisionistische Zielsetzungen zu propagieren.
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Sowohl die Reichs- als auch die Landeszentralen unter-
hielten Lichtbild-Archive, bei denen Lichtbildserien und
auch Projektoren gegen ein geringes Entgelt ausgeliehen
30 Schneidemühl: Blutende Grenze, in: Mitteilungsblatt der Landesabteilung
Sachsen der Reichszentrale für Heimatdienst, Nr. 2, 15. Januar 1933, 14.
Jahrgang, S. 3.
31 Vgl. Elisabeth Wehling: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Den-
ken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016.
werden konnten.
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Ebenso wie die Printprodukte befassten
sich die Lichtbildserien schwerpunktmäßig mit Grenzland-
kämpfen und Gebietsabtretungen sowie mit dem Versailler
Vertrag. Der Lichtbild-Stock umfasste Vorführungen wie
„Der deutsche Rhein“, „Das rheinisch-westfälische Indus-
triegebiet“, „Der deutsche Osten“, „Ostpreußen“, „Grenz-
und Auslandsdeutschtum“, „Das Land an der Saar“,
„Schleswig-Holstein“, „Oberschlesien in Not“, „Der groß-
deutsche Gedanke“, „Das Burgenland“, „Deutsch-Südtirol
unter der Fremdherrschaft“, „Sudetenland“, „Der deutsche
Grenzkampf im Süden“ und „Deutsche Kolonialarbeit“.
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Wenngleich die Nutzung der neuen Massenmedien –
Rundfunk und Film – der Reichszentrale für Heimatdienst
wegen Kompetenzstreitigkeiten verwehrt blieb, fand bereits
in den 1920er Jahren innerhalb der Reichszentrale eine Dis-
kussion darüber statt, in welcher Weise man die Zusam-
menarbeit mit dem Rundfunk intensivieren könne.
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Richard Strahl als Leiter der Reichszentrale für
Heimatdienst
Richard Strahl, auf dessen Beitrag „Arbeit und Orga-
nisation des Reichsheimatdienstes“ bereits eingegangen
wurde, hatte von 1918 bis 1933 das Amt des Leiters der
Reichszentrale inne, und es kann kein Zweifel daran beste-
hen, dass er in dieser Funktion die Ausrichtung der von
der Reichszentrale betriebenen „Volksaufklärung“ maß-
geblich prägte. Ohne an dieser Stelle auch nur annähernd
einen Überblick über seine 15-jährige Tätigkeit als Leiter.
geben zu können, soll im Folgenden anhand einer von
ihm verfassten Denkschrift sein Verständnis der Aufgaben
der R.f.H. skizziert werden.
Im Jahre 1926 veröffentlichte Strahl „Grundsätze der
Volksaufklärung“, in denen er eingangs konstatierte, dass in
„Deutschland das Interesse an der Aufklärung und der Propa-
ganda gestiegen“ und der von der Presse geprägte Ausdruck
„Propaganda als politische Waffe“ völlig zutreffend sei.
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Insbesondere aufgrund der politischen Lage in Deutschland
(Versailler Vertrag, Reparationszahlungen, Besetzung der
32 Das Lichtbild-Verzeichnis der RfH aus dem Jahre 1928/29 umfasst Licht-
bildserien zu folgenden thematischen Bereichen: Geschichte, Deutsche
Heimat, Kolonialarchiv, Länder- und Völkerkunde, Volks- und Weltwirt-
schaft, Verkehr, Sozialpolitik – Kulturpolitik, Weltpolitik und Staatsbür-
gerkunde, Kunst- und Kunstgeschichte, Leibesübungen – Gesundheits-
pflege, Biologie, Märchen und Unterhaltung. Vgl. Reichszentrale für
Heimatdienst: Lichtbild-Verzeichnis, Berlin 1928/29, S. 8-11.
33 Ebd., S. 3-6.
34 Vgl. Wippermann (wie Anm. 4), S. 274-280.
35 Richard Strahl: Grundsätze der Volksaufklärung, Berlin 1926, dokumen-
tiert in: Wippermann (wie Anm. 4), S. 474-485.