72
Geformt aus Lehm und Sand – eine Zwischenbilanz zur postkolonialen Situation Malis
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
Dichtung, die persönliche Vermittlung und das gemein-
same Praktizieren der kulturellen Hintergründe wesent-
lich höhere Bedeutung hatte als das geschriebene Wort.
Diese Kunst wird von männlichen Griots bzw. weibli-
chen Griottes beherrscht und wurde im entlegensten Dorf
ebenso gepflegt wie bei Hofe. Selbst nach Einführung des
Islam, der bekanntermaßen über eine außerordentliche
Schriftkultur und Kalligrafie verfügt, blieb die Tradition
der oralen und musikalischen Übermittlung von Traditio-
nen, Geschichten und Ratschlägen inWestafrika lebendig.
Möglicherweise ist dies einer der Gründe dafür, dass in
Westafrika bis heute eine musikalische Kultur besteht, die
weltweite Beachtung findet. Auch erstaunt es nicht, dass
die Ursprünge des Blues und Jazz ebenfalls in der afrika-
nischen Musik vermutet werden, die durch die Sklaven-
transporte nach Amerika exportiert wurde.
Timbuktu mit seinen universitätsähnlichen Medersen
war das schriftliche Gedächtnis Afrikas. Hier wurden in
der Bibliothek „Ahmed Baba“, die erst 2011 mit einem
Neubau in Timbuktu neue Möglichkeiten der Sammlung,
Forschung und interdisziplinären, internationalen Arbeit
erhielt, rund 40.000 Unikate juristischer, theologischer
und philosophischer Traktate, naturwissenschaftlicher
und literarischer Schriften gesammelt und systematisch
aufgearbeitet. Aufgrund der bilderfeindlichen Vorstellun-
gen der Radikalislamisten wurde die Bibliothek in Brand
gesetzt und zerstört. Ziel war die Vernichtung der histori-
schen Unikate bei gleichzeitigem Aufbau einer Drohku-
lisse. Ein großer Teil der Schriften konnte jedoch recht-
zeitig vor der Zerstörung durch die Radikalislamisten in
Sicherheit gebracht werden.
Die unterschiedlichen Kulturen Malis haben ganz
erstaunlicheAlltagsartefakte, sakraleGegenstände, Schmuck
und Gebrauchsgegenstände erschaffen. Von Ergebnissen
der Metallurgie, des Gold- und Gelbgussverfahrens, über
Lehm- und Tongegenstände hin zu Holzschnitzereien von
Statuetten oder Masken bis hin zu einer Textil- und Textil-
färbekunst von ganz erstaunlicher Qualität.
Die sakralen Objekte wie Kraftfiguren werden i.d.R. von
den Schmieden als Auftragsarbeiten geschaffen. Sowohl
diese unterschiedlichen Zuständigkeiten, als auch der rege
kulturelle Austausch zwischen den unterschiedlichen Eth-
nien führt zu einem sehr großen gestalterischen Reichtum
der Alltagsartefakte ebenso wie der Sakralobjekte. Der For-
menreichtum und die Gestaltung dieser Objekte reicht
von vergleichsweise naturalistischen Darstellungen bis zu
erstaunlich abstrakten Geometrien. Es erstaunt in keiner
Weise, dass die Würde, die Archaik und die Abstraktion die
Dogon-Felder am Fuße der Falaise
Dächer und Innenhöfe Djennes