Table of Contents Table of Contents
Previous Page  77 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 77 / 80 Next Page
Page Background

77

Geformt aus Lehm und Sand – eine Zwischenbilanz zur postkolonialen Situation Malis

Einsichten und Perspektiven 4 | 17

ganze Reihe von Ethnien, die laut französischer Ethnolo-

gie patriarchal organisiert sind. Bei genauerer Betrachtung

stellt sich aber heraus, dass die größte Sorge der sog. Patri-

archen ist, von ihren Frauen verlassen zu werden, die häufig

wesentlich größere gesellschaftliche Freiheiten, das Recht

auf persönlichen Besitz und wesentlich größere lokale

Unabhängigkeiten besitzen. Es könnte durchaus die Mög-

lichkeit bestehen, dass sowohl durch die Invasion der Euro-

päer, als auch durch einen sich restriktiver gestaltenden,

weiter ausbreitenden Islam traditionell stark emanzipierte

afrikanische Gesellschaften Veränderungen unterworfen

werden, die der eigenen kulturellen Wurzeln entbehren.

Möglicherweise sind diese kulturellen Ursprünge aber so

tief eingeschrieben, dass sie insbesondere in Zeiten der Not

wieder sichtbar und nutzbar werden. Nicht aber in einer

Form, die sich auf eine „Rückbesinnung“ eigener (abge-

schlossener) kultureller Wurzeln bezieht, sondern in einer

neuen, einer kulturell vielstimmigen Form. Der des soge-

nannten „Afropolitanismus“ wie er von dem international

vielfach ausgezeichneten kameruner Intellektuellen Achille

Mbembe definiert wird.

14

Statt dem bereits widerlegten

One-tribe-one-style- Paradigma

“ zu huldigen, nimmt er

14 Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entko-

lonialisiertes Afrika, Berlin 2016.

die vielfältige kulturelle Durchmischung, die Kreolität und

Hybridität der eigenen Identität an und formt daraus ein

neues Selbstverständnis.

Möglicherweise ist es genau dieses Selbstverständnis,

das es westafrikanischen Staaten wie Mali möglich macht,

aus eigener Kraft, mit einer erst zu entdeckenden eigenen

Identität eine emanzipatorische Freiheit zu entwickeln,

die international in der Kunst bereits festzustellen ist. Im

Staatsgebilde Malis finden sich unzählige Initiativen, deren

Akteure in der Regel nicht auf den Staat warten, um, sofern

möglich, ihre Alltagsprobleme zu lösen. Vermutlich sind

es vielmehr die sogenannten ‚Eliten‘, die dazu beigetragen

haben, einen nicht unwesentlichen Teil der Schwierigkei-

ten, mit denen die Nation aktuell zu kämpfen hat, erst her-

beizuführen. Gleichwohl könnte das verwundete Land mit

der langen „Geschichte von Staatlichkeit, der reichen Kul-

turtradition und einer beachtlichen religiösen Toleranz“

15

nun, aus der Not geboren, einen neuen, eigenen Zugang

darüber entwickeln, was Staat ausmacht. Denn angesichts

einer modernen Form der wirtschaftlichen Kolonisierung

lohnt es umso mehr, die Kreativität und die Fähigkeiten der

lokalen Bevölkerung zu involvieren. Diese Mechanismen

kennen zu lernen, zu versuchen, sie zu verstehen und in

der Folge nutzen zu können, ist eine der Strategien, für die

der Soziologe und Urbanist Abdoumaliq Simone (Kapstadt

& London) versucht, Strategien zu entwickeln. In Zeiten

der Lebensmittelknappheit, der hygienischen Defizite, der

Wirtschafts- und ökologischen Krisen haben die Menschen

in den informellen Strukturen schon lange ganz eigene Tra-

ditionen und Infrastrukturen des Überlebens entwickelt,

die sich lohnen, sie kennen zu lernen.

16

Möglicherweise besteht für das künftige Mali eine Chance

darin, zu versuchen, ein globalisiertes Land mit Eigeninitia-

tive zu werden, das sich der eigenen Geschichte zwar bewusst

ist, aber eine neue schreibt. Eine neue interkulturelle, die

organisatorisch kleinteiliger und föderaler strukturiert, sich

vom französischen Verwaltungsursprung entfernt. Vielleicht

bestehen bei derartig veränderten Strukturen unmittelbarere

Möglichkeiten, auf das System und die Inhalte Einfluss zu

nehmen und von dem System zu profitieren. Auch wenn der

Staat zu mehr als der Hälfte aus Wüste besteht, das Staats-

konstrukt aktuell nicht stabil fundiert, sondern eher auf Sand

gebaut erscheint, so wären derartige Veränderungen den Bür-

gern Malis in jedem Fall zu wünschen.

15 Wiedmann (wie Anm. 10), S. 291.

16 Simone Abdoumaliq/Edgar Pieterse: New Urban Worlds: Inhabiting Disso-

nant Times, Cambridge 2017.

Spuren der Hände, die die „Haut“ der Lehmgebäude nach der Regenzeit

sanieren