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Geformt aus Lehm und Sand – eine Zwischenbilanz zur postkolonialen Situation Malis
Einsichten und Perspektiven 4 | 17
ganze Reihe von Ethnien, die laut französischer Ethnolo-
gie patriarchal organisiert sind. Bei genauerer Betrachtung
stellt sich aber heraus, dass die größte Sorge der sog. Patri-
archen ist, von ihren Frauen verlassen zu werden, die häufig
wesentlich größere gesellschaftliche Freiheiten, das Recht
auf persönlichen Besitz und wesentlich größere lokale
Unabhängigkeiten besitzen. Es könnte durchaus die Mög-
lichkeit bestehen, dass sowohl durch die Invasion der Euro-
päer, als auch durch einen sich restriktiver gestaltenden,
weiter ausbreitenden Islam traditionell stark emanzipierte
afrikanische Gesellschaften Veränderungen unterworfen
werden, die der eigenen kulturellen Wurzeln entbehren.
Möglicherweise sind diese kulturellen Ursprünge aber so
tief eingeschrieben, dass sie insbesondere in Zeiten der Not
wieder sichtbar und nutzbar werden. Nicht aber in einer
Form, die sich auf eine „Rückbesinnung“ eigener (abge-
schlossener) kultureller Wurzeln bezieht, sondern in einer
neuen, einer kulturell vielstimmigen Form. Der des soge-
nannten „Afropolitanismus“ wie er von dem international
vielfach ausgezeichneten kameruner Intellektuellen Achille
Mbembe definiert wird.
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Statt dem bereits widerlegten
„
One-tribe-one-style- Paradigma
“ zu huldigen, nimmt er
14 Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entko-
lonialisiertes Afrika, Berlin 2016.
die vielfältige kulturelle Durchmischung, die Kreolität und
Hybridität der eigenen Identität an und formt daraus ein
neues Selbstverständnis.
Möglicherweise ist es genau dieses Selbstverständnis,
das es westafrikanischen Staaten wie Mali möglich macht,
aus eigener Kraft, mit einer erst zu entdeckenden eigenen
Identität eine emanzipatorische Freiheit zu entwickeln,
die international in der Kunst bereits festzustellen ist. Im
Staatsgebilde Malis finden sich unzählige Initiativen, deren
Akteure in der Regel nicht auf den Staat warten, um, sofern
möglich, ihre Alltagsprobleme zu lösen. Vermutlich sind
es vielmehr die sogenannten ‚Eliten‘, die dazu beigetragen
haben, einen nicht unwesentlichen Teil der Schwierigkei-
ten, mit denen die Nation aktuell zu kämpfen hat, erst her-
beizuführen. Gleichwohl könnte das verwundete Land mit
der langen „Geschichte von Staatlichkeit, der reichen Kul-
turtradition und einer beachtlichen religiösen Toleranz“
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nun, aus der Not geboren, einen neuen, eigenen Zugang
darüber entwickeln, was Staat ausmacht. Denn angesichts
einer modernen Form der wirtschaftlichen Kolonisierung
lohnt es umso mehr, die Kreativität und die Fähigkeiten der
lokalen Bevölkerung zu involvieren. Diese Mechanismen
kennen zu lernen, zu versuchen, sie zu verstehen und in
der Folge nutzen zu können, ist eine der Strategien, für die
der Soziologe und Urbanist Abdoumaliq Simone (Kapstadt
& London) versucht, Strategien zu entwickeln. In Zeiten
der Lebensmittelknappheit, der hygienischen Defizite, der
Wirtschafts- und ökologischen Krisen haben die Menschen
in den informellen Strukturen schon lange ganz eigene Tra-
ditionen und Infrastrukturen des Überlebens entwickelt,
die sich lohnen, sie kennen zu lernen.
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Möglicherweise besteht für das künftige Mali eine Chance
darin, zu versuchen, ein globalisiertes Land mit Eigeninitia-
tive zu werden, das sich der eigenen Geschichte zwar bewusst
ist, aber eine neue schreibt. Eine neue interkulturelle, die
organisatorisch kleinteiliger und föderaler strukturiert, sich
vom französischen Verwaltungsursprung entfernt. Vielleicht
bestehen bei derartig veränderten Strukturen unmittelbarere
Möglichkeiten, auf das System und die Inhalte Einfluss zu
nehmen und von dem System zu profitieren. Auch wenn der
Staat zu mehr als der Hälfte aus Wüste besteht, das Staats-
konstrukt aktuell nicht stabil fundiert, sondern eher auf Sand
gebaut erscheint, so wären derartige Veränderungen den Bür-
gern Malis in jedem Fall zu wünschen.
15 Wiedmann (wie Anm. 10), S. 291.
16 Simone Abdoumaliq/Edgar Pieterse: New Urban Worlds: Inhabiting Disso-
nant Times, Cambridge 2017.
Spuren der Hände, die die „Haut“ der Lehmgebäude nach der Regenzeit
sanieren