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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Vom erfolgten Wechsel hin zu einer gleichberechtigen

Erinnerung an die Verbrechen sowohl des Nationalsozi-

alismus als auch des Stalinismus legt auch die konkrete

Ausgestaltung des Bereichs „Europäisches Geschichtsbe-

wusstsein“ im Programm „Europa für Bürgerinnen und

Bürger“ 2014–2020 Zeugnis ab, im Rahmen dessen „Ini-

tiativen gefördert werden [können], die sich mit den Ursa-

chen für die totalitären Regime in der neueren Geschichte

Europas (vor allem, aber nicht ausschließlich National-

sozialismus, der zum Holocaust geführt hat, Faschismus,

Stalinismus und totalitäre kommunistische Regime) und

dem Gedenken an die Opfer beschäftigen“. 

36

Der nach der Osterweiterung erkennbar gewordene Per-

spektivenwechsel indes war und blieb im Kern bis heute

umstritten. Unterschiedliche Bewertungen der Erweiterung

des Fokus eines europäischen historischen Gedächtnisses,

das Stalinismus und Kommunismus explizit miteinbezieht,

werden nicht nur entlang des politischen Links-Rechts-

Spektrums, sondern auch zwischen westlichen und östli-

chen EU-Mitgliedstaaten deutlich. So kann die im Westen

verbreitete Interpretation des Zweiten Weltkriegs als einem

unter dem Banner der Freiheit und der Demokratie gegen

Faschismus und Nationalsozialismus geführten Krieg von

osteuropäischen Ländern nicht oder nur sehr eingeschränkt

geteilt werden: 1945 mag zwar die Befreiung vom Natio-

nalsozialismus markieren, steht gleichzeitig aber für den

Beginn neuer – namentlich sowjetischer – Fremdherrschaft

36 Rat 2014 (wie Anm. 32), Anhang.

und die Schaffung diktatorischer Regime. Umgekehrt blei-

ben angesichts des Fehlens vergleichbarer Erfahrungen mit

kommunistischer Herrschaft in den alten EU-Mitgliedstaa-

ten Nationalsozialismus und Holocaust bis heute prägend

für deren Erinnerungskulturen.

Dementsprechend erscheint die auf EU-Ebene bemühte

Formel von „Nationalsozialismus und Stalinismus als gleich-

wertige Übel“ letztlich weniger als Ausdruck eines gemein-

samen Bezugspunktes transeuropäischen historischen Erin-

nerns, denn vielmehr Umschreibung einer fortdauernden,

teilweise rivalisierenden Parallelität unterschiedlicher Erin-

nerungsrahmen.

Forcierung eines teleologisch-reduktionistischen Geschichts-

verständnisses

Die Bestimmung von Nationalsozialismus und Stalinismus

als Hauptbezugspunkte für ein kollektives europäisches

Gedächtnis ist einerseits nachvollziehbar, stellen die Tota-

litarismen des 20. Jahrhunderts doch einen klaren Kont-

rast zu den im „europäischen Projekt“ verkörperten Idealen

dar: Frieden, Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,

Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten, oder das Recht

auf individuelle Selbstbestimmung und Pluralismus. Ande-

rerseits ist dies insofern problematisch, als eine Sicht der

Geschichte forciert wird, die Europas „dunkle Vergangen-

heit“ als Antipode seiner „glänzenden Gegenwart“ erschei-

nen lässt. Indem das heutige Europa als eine Art „vollen-

deter historischer Vernunft“ anmutet – gewissermaßen ein

Kontinent nobler Traditionen, Institutionen und Prinzi-

pien – wird ein eindimensionales Geschichtsverständnis

befördert, das der Schaffung einer kritischen europäischen

Öffentlichkeit abträglich ist. Nicht durch die Idealisie-

rung des europäischen Integrationsprozesses seit den spä-

ten 1940er Jahren, sondern allein durch (selbst-)kritische

Hinterfragung des weitverbreiteten Topos einer „fortgesetz-

ten Erfolgsgeschichte“ kann eine fruchtbare Debatte über

zukünftige Verbesserungen sinnvoll angestoßen werden.

Zudem erweist sich der Fokus auf Nationalsozialismus

und Stalinismus insofern problematisch, als er europäische

Geschichte im Wesentlichen zu einem Phänomen der Zeit

nach dem Ersten Weltkrieg macht. Dadurch wird nicht nur

historische Komplexität auf unzulässige Weise reduziert,

auch bleiben andere Epochen und fundamentale historische

Erfahrungen außen vor, die für das Verständnis des zeitge-

nössischen Europa essentiell sind. So lässt sich etwa das Pro-

blem des radikalen Nationalismus nur schwerlich ohne das

18. und 19. Jahrhundert verstehen, und erscheint die Erfah-

rung von Kolonialismus und Imperialismus nicht weniger

„europäisch“ als jene von Totalitarismus – gerade, wenn

In Prag erinnert ein Denkmal an die Opfer des Kommunismus: Figuren tauchen

aus dem Nichts auf einer Treppe auf und verlieren sich wieder.

Foto: ullstein bild-Westend61/Fotograf: Valentin Weinhäupl