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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

II. Beförderung eines gemeinsamen europäischen Gedächt-

nisses basierend auf weit gefassten Topoi wie zum Bei-

spiel „Demokratie“ oder „Freiheit“ und einem tenden-

ziell unverbindlichen Charakter;

III. Forcierung eines kollektiven europäischen Gedächt-

nisses auf der Grundlage klar definierter historischer

Wegmarken und entsprechender Verbindlichkeit.

Letzteres steht im Mittelpunkt jüngerer politischer Initia-

tiven in Europa. Versuche, bestehende nationale kollektive

Identitäten und Erinnerungen durch eine transnationale

Komponente zu ergänzen, um dem europäischen Projekt

zusätzliche Legitimität zu verleihen, wurden seitens der

politischen Eliten seit den Anfängen der europäischen

Integration unternommen. Doch während europäisches

„(Kultur-)Erbe“ imweitesten Sinne, 

7

der ZweiteWeltkrieg

7 Siehe beispielsweise das „Dokument über die europäische Identität“, das

am 14. Dezember 1973 auf dem Gipfel von Kopenhagen von den europä-

ischen Staats- und Regierungschefs angenommen wurde. In: Amtsblatt

der Europäischen Gemeinschaften, Dezember 1973, Nr. 12, S. 118–122.

Zu jüngeren europäischen Maßnahmen in diese Richtung zählt das „Eu-

ropäische Kulturerbe-Siegel“, und auch die Initiative „Kulturhauptstadt

Europas“ nimmt die Idee eines bestehenden gemeinsamen, wenn auch

verschiedenartigen europäischen Erbes auf.

als Initialzündung der europäischen Integration 

8

und die

Errungenschaften der Integration selbst als traditionelle

Referenzpunkte dienten, hat sich in den vergangenen zwei

Jahrzehnten ein konkreterer Fokus herausgebildet, der die

spezifische Erinnerung an den Holocaust einerseits, die

totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts – insbesondere

Nationalsozialismus und Stalinismus – andererseits in den

Mittelpunkt gedächtnispolitischer Bemühungen stellt.

Ihren Ausdruck finden diese gedächtnispolitischen

Bemühungen in verschiedenen bewusstseinsbildenden

Initiativen seit den 1990er Jahren, vor allem durch das

Europäische Parlament. So gab das Europäische Parla-

ment nach vorangegangenen Entschließungen über Ras-

sismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus 

9

und

im Gefolge der Erklärung des Internationalen Forums von

Stockholm über den Holocaust (26.–28. Januar 2000) 

10

im Juli 2000 etwa eine Erklärung zur Erinnerung an den

8 Siehe hierzu etwa die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950. Die Erklä-

rung selbst folgte auf eine lange zurückreichende Denktradition, die für

eine europäische (Kon-)Föderation zur Überwindung von Nationalismus

argumentierte. Vgl. auch Winston Churchills vielzitierte Forderung nach

Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ in einer Rede an der Uni-

versität Zürich am 19. September 1946.

9 Siehe insbesondere: „Entschließung des Europäischen Parlaments zu Ras-

sismus und Ausländerfeindlichkeit, 27. Oktober 1994“, in: Amtsblatt der

Europäischen Union C 323 vom 21.11.1994, S. 154ff.; „Entschließung des

Europäischen Parlaments zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Anti-

semitismus, 27. April 1995“, in: Amtsblatt der Europäischen Union C 126

vom 22.05.1995, S. 75ff.; „Entschließung des Europäischen Parlaments zu

Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, 27. Oktober 1995“,

in: Amtsblatt der Europäischen Union C 308 vom 20.11.1995, S. 140–142;

„Entschließung des Europäischen Parlaments zu Rassismus, Fremden-

feindlichkeit und Antisemitismus und zum Europäischen Jahr gegen

Rassismus, 30. Januar 1997“, in: Amtsblatt der Europäischen Union C 55

vom 24.02.1997, S. 17–22; „Entschließung des Europäischen Parlaments

zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Europä-

ischen Union, 29. Dezember 2000“, in: Amtsblatt der Europäischen Union

C 377 vom 29.12.2000, S. 366–375.

10 Während des Stockholmer Internationalen Holocaust-Forums (

Stockholm

International Forum on the Holocaust

) wurde eine gemeinsame Erklärung

angenommen, die als Gründungsdokument der

Task Force for Internati-

onal Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research

(ITF) – seit Januar 2013

International Holocaust Remembrance Alliance

(IHRA) – als intergouvernementaler Organisation diente. Die Erklärung

betonte die Wichtigkeit, „die schreckliche Wahrheit über den Holocaust

gegenüber denjenigen, die ihn verleugnen“, zu bewahren (Artikel 3) und

die Erinnerung an den Holocaust als einen „Prüfstein unseres Verständ-

nisses der Fähigkeit des Menschen zu guten und bösen Taten“ (Artikel 2)

wachzuhalten. Die Erklärung forderte mehr Unterricht und Bildung in

Sachen Holocaust (Artikel 5), und brachte die Verpflichtung ihrer Unter-

zeichner zum Ausdruck, den „Opfern des Holocaust zu gedenken und jene

zu ehren, die sich gegen ihn gestellt haben“, sowie „in unseren Ländern

geeignete Formen der Erinnerung an den Holocaust, einschließlich eines

jährlichen Tags der Erinnerung an den Holocaust, zu unterstützen“ (Arti-

kel 6). Die Erklärung ist auf der Website der IHRA zu finden: http://www.

holocaustremembrance.com/about-us/stockholm-declaration.

Titelseite des Dekrets der französischen Nationalversammlung mit der Erklä-

rung der Menschenrechte, 3. September 1791

Abbildung: ullstein bild