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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Dilemmata der EU-Gedächtnispolitik

Die Dilemmata heutiger EU-Gedächtnispolitik manifestie-

ren sich im Wesentlichen in dreierlei Gestalt: der Paralleli-

tät konkurrierender „Erinnerungsrahmen“, der Forcierung

eines teleologisch-reduktionistischen Geschichtsverständ-

nisses sowie in fehlenden Anreizen zur kritischen Aufarbei-

tung von Geschichte auf nationalstaatlicher Ebene.

Parallelität konkurrierender „Erinnerungsrahmen“

Frühe Versuche europäischer Identitätsstiftung durch

Bezug auf ein gemeinsames europäisches Erbe, die Welt-

kriege als Gründungsmoment des europäischen „Frie-

densprojektes“ und die Geschichte der europäischen

Integration hatten sich als unzureichend für eine starke

Identifizierung mit der Europäischen Union erwiesen,

zumal sie nur sehr beschränkt mit bestehenden Gedächt-

niskulturen auf nationaler Ebene korrespondierten.

Dementsprechend trat ab den 1990er Jahren der Bezug

auf den Nationalsozialismus und insbesondere den Holo-

caust als das „schrecklichste aller Übel“, im Gegensatz

zu denen europäische Zivilisation definiert werden sollte

und musste, in den Mittelpunkt des EU-Diskurses. Doch

während die Vorstellung der „Einzigartigkeit des Holo-

caust“ prägend für die Nachkriegskulturen Westeuropas

geworden war und Widerhall in den dortigen nationa-

len Gedächtniskulturen fand, stellte sich die Situation in

Osteuropa mit seiner kommunistischen Vergangenheit

grundlegend anders dar.

Dementsprechend wurde mit der Osterweiterung der

Union ein neues Diskurselement in die Gedächtnispolitik

der europäischen Institutionen eingeführt, das stalinisti-

sche Verbrechen und kommunistischen Terror auf eine

Ebene mit den Schrecken des Nationalsozialismus stellte.

Ausdruck dessen ist nicht nur die Entschließung des Euro-

päischen Parlaments von 2005 über „Die Zukunft Euro-

pas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg“, in dem das

Leid der osteuropäischen Völker unter kommunistischer

Herrschaft in wirkungsmächtiger Form auf die Agenda

der Europäischen Union kam und das „Ausmaß […] des

Leidens, der Ungerechtigkeit und der dauerhaften gesell-

schaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Schwä-

chung der eingeschlossenen Länder auf der östlichen Seite

des späteren Eisernen Vorhangs“ anerkannt wurde. 

35

35 „Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes

des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, 12. Mai 2005“, in:

Amtsblatt der Europäischen Union C 92 E vom 20.04.2006, S. 392ff., Zitat

Erwägung H.

Symbol des geschichtlichen „Nullpunkts“ Europas: das ehemalige Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau

Foto: ullstein bild/Fotograf: Spiegl