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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

so scheint der potentielle Schaden den Nutzen doch

nicht aufwiegen zu können. Vielversprechender scheint

die Schaffung beziehungsweise Stärkung einer kritischen

Öffentlichkeit vermittels einer Bildungspolitik, die mit

der genannten „Kultur des Erinnerns“ korrespondiert –

eine Kultur, die den Bürgerinnen und Bürgern in Europa

nicht aufgezwungen werden kann, sondern persönlicher

Einsicht und persönlichem Verständnis entspringen muss.

Zentrale Aufgaben einer solchen Bildungspolitik sind:

Sensibilisierung von Schülerinnen und Schülern sowie

Studierenden für europäische Vielfalt in Vergangenheit

und Gegenwart;

Schaffung der Voraussetzungen, um die Geschichte

des eigenen Landes möglichst objektiv und in weiteren

Kontexten – europäisch wie global – thematisieren zu

können;

Ermutigung junger EuropäerInnen, sich aktiv an Diskus-

sionen über Geschichte zu beteiligen und Geschichtsbe-

wusstsein zu schärfen.

Zu diesem Zweck gilt es einen doppelten Schwerpunkt zu

setzen, namentlich:

I. bestehende Lehrpläne und Unterrichtsdidaktik derge-

stalt anzupassen, dass man sich von bislang dominie-

renden nationalgeschichtlichen Ansätzen zugunsten

einer stärker europäischen und globalen Annäherung an

Geschichte löst, und es jungen Europäern ermöglicht,

durch offene und diskursive Lehrformate ein selbstkri-

tisches historisches Bewusstsein zu entwickeln; 

43

und

II. eine maßgeschneiderte (Geschichts-)Lehrerausbildung

zu bieten, die diesen Erfordernissen entspricht.

Weder aufgrund der bestehenden Kompetenzlage in der

EU noch aus praktischen Gründen kann die Union die

Aufarbeitung der Vergangenheit für ihre Mitgliedstaa-

ten übernehmen und die nötigen bildungspolitischen

Akzente zu setzen. Doch sie ist in der Lage, nationale

Anstrengungen in dieser Hinsicht sowohl zu fördern als

auch zu fordern – und zugleich eine gemeinsame „Kultur

des Erinnerns“ zu forcieren. Damit bestünde ein Ansatz,

der der Vielfältigkeit bestehender Formen des historischen

Gedächtnisses in Europa Genüge täte, während gleich-

zeitig ein Anreiz geschaffen wäre, diese mit Hilfe eines

gemeinsamen transnationalen Ansatzes neu zu betrachten

und gegebenenfalls auch zu hinterfragen.

43 Eine vielversprechende Initiative dahingehend sind bestehende Pilotpro-

jekte für bi- beziehungsweise multilaterale Geschichtslehrbücher.

Zu diesem Zweck kann die Europäische Union nicht nur

ihr Repertoire an „sanften Machtmitteln“ einsetzen, um

die Mitgliedstaaten zu Engagement zu bewegen, sondern

auch auf bestehende europäische Programme zurückgrei-

fen. Dazu gehören das bereits genannte Programm

Europa

für Bürgerinnen und Bürger

, das die Finanzierung multina-

tionaler Geschichts- und Erinnerungsprojekte ermöglicht,

ebenso wie das Programm „Erasmus+“, mit dem länder-

übergreifende Austauschprogramme und Studienaufent-

halte für Schülerinnen und Schüler, Studierende und Leh-

rende unterstützt werden.

Langfristig wünschenswert wäre die Entwicklung eines

tatsächlich europäischen Diskurses über die Vergangen-

heit des Kontinents, dies auf der Grundlage einer von der

EU begleiteten kritischen Selbstreflexion über Geschichte

und geschichtliche Verantwortung auf nationaler Ebene.

In einen solchen Diskurs würden verschiedene kollektive

Erinnerungen einfließen und sich zu einem gesamteuro-

päischen öffentlichen Raum verbinden – einem Raum, in

dem Erinnerungskulturen einander ergänzen und nicht

miteinander im Wettbewerb stehen und in dem histori-

sches Gedächtnis zuvorderst eine Frage zivilgesellschaftli-

chen und nicht politischen Handelns ist.

Das zentrale musikalische Identifikationsobjekt der Europäischen Union:

Beethovens neunte Sinfonie (Op. 125), hier ein Blatt der Originalpartitur

Foto: ullstein bild – Granger NYC