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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

historisches Gedächtnis quasi von oben zu oktroyieren,

letztlich zum Scheitern verurteilt. Gewiss ist: Eine Erinne-

rungskultur, die keine hinreichende Verknüpfung zwischen

der individuellen Erfahrung von Bürgerinnen und Bürgern

einerseits und einer offiziellen Auslegung durch die Politik

andererseits garantiert, kann nicht von Dauer sein. Nicht

zuletzt an dieser zentralen Erkenntnis gilt es künftige poli-

tische Aktivitäten auf europäischer Ebene auszurichten.

Das Ziel von europäischer Erinnerungspolitik sollte die

Entstehung eines informierten und belastbaren, aber auch

selbstkritischen historischen Gedächtnisses sein. Hierfür

scheint die Abwendung von der Idee einer fest definier-

ten „Gedächtniskultur“ hin zu einer gemeinsamen, als

prozesshaft und dynamisch zu verstehenden „Kultur

des

Erinnerns“ vielversprechend und notwendig.

Dabei ginge es zentral darum, von europäischer Seite

aktives Engagement aller Nationalstaaten zu befördern,

ihre je eigene Vergangenheit zu „bewältigen“, oder besser

„aufzuarbeiten“ – ein Begriff, der passender scheint für die

Beschreibung eines möglichst offenen Prozesses von gesell-

schaftlicher und politischer Arbeit an der Vergangenheit,

nicht einer endgültigen Deutung der Vergangenheit. 

37

Die Grundlage hierfür könnten gemeinsame europäische

Werte und universalisierte Praktiken der Geschichtsauf-

arbeitung bilden. Anders ausgedrückt: Es ginge um keine

homogenisierende Europäisierung der Inhalte unterschied-

licher kollektiver Erinnerungen, sondern vielmehr um

eine Europäisierung von Einstellungen und Praktiken im

Umgang mit höchst unterschiedlichen Vergangenheiten. 

38

Gemeinsame europäische Werte, auf denen ein solches

Unterfangen aufbauen könnte, sind Menschenwürde, Tole-

ranz, Freiheit und Gleichheit, Solidarität und Demokratie;

mit anderen Worten, das bereits bestehende Repertoire von

Grundwerten, das sich als Kern der europäischen Integra-

tion herausgebildet hat und auch entsprechenden rechtli-

chen Niederschlag gefunden hat. 

39

Im Einklang mit diesen

37 Das Konzept „Aufarbeitung der Vergangenheit“ wurde vom deutschen So-

ziologen und Philosophen Theodor W. Adorno bereits in den 1950er Jah-

ren geprägt, konkret im Zusammenhang mit Debatten über fortwirkende

nationalsozialistische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Siehe

insbesondere seinen Essay

The Meaning of Working through the Past

von

1959 (abgedruckt u.a. in Theodor W. Adorno: Critical Models: Interven-

tions and Catchwords. New York, NY 1998, S. 89–103).

38 Jan-Werner Müller: „On ‚European Memory’: Some Conceptual and Nor-

mative Remarks“, in: A European Memory? Contested Histories and Politics

of Remembrance, hg. von Małgorzata Pakier und Bo Stråth, Oxford 2010,

S. 25–37.

39 Diese Grundprinzipien der EU sind unter anderem in der Präambel der

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dargelegt. In: Amtsblatt

der Europäischen Union C 326 vom 26.10.2012, S. 391–407.

Werten stünde im Rahmen der angestrebten „Kultur des

Erinnerns“ die Schaffung von offenen Diskussionsforen

und die Entwicklung eines wechselseitigen Verständnis-

ses, das bi- und multilaterale Aussöhnung erst ermöglicht,

im Zentrum der Bemühungen. Ein derartiger Zugang

impliziert nicht nur die Zurückweisung von Versuchen,

Schuld und Leid zu quantifizieren und zu reihen oder

ein Verbrechen gegen ein anderes aufzurechnen, sondern

auch, schwierige Momente der eigenen Geschichte ohne

Vorbehalte zu thematisieren. Vielversprechende Schritte

in diese Richtung wurden bereits unternommen, etwa in

Gestalt jener „Politik des Bedauerns“ in Europa und dar-

über hinaus, im Kontext derer politische Führer öffentlich

Verantwortung für frühere Vergehen ihres jeweiligen Lan-

des übernehmen und Abbitte zu leisten versuchen. 

40

Das Ziel eines unvoreingenommenen Umgangs mit

Geschichte verlangt letzten Endes auch die Abkehr von

„historischer Wahrheit“ als einer absolut verstandenen

Kategorie. Selbst in den Naturwissenschaften lässt sich

nur nach einer „immer stärkeren Annäherung an die

Wahrheit“ streben, 

41

und dies gilt in noch stärkerem

Maße für die Geisteswissenschaften. Es mag historische

Fakten geben, aber es gibt keine alleinige oder feststehende

historische Wahrheit, zumal Wahrheit immer in Macht-

strukturen eingebettet bleibt, gleichzeitig einen Teil die-

ser Machtstrukturen bildet und im Laufe der Geschichte

ständigen Veränderungen unterworfen ist. 

42

Was heute als

„Wahrheit“ angesehen wird, mag in der Zukunft durch-

aus als „Unwahrheit“ gelten, zugleich ist die Wahrheit des

einen nicht notwendigerweise auch jene eines anderen.

Vor diesem Hintergrund erscheint die autoritativ erfol-

gende Bestimmung

der

historischen Wahrheit ein vergeb-

liches und gefährliches Unterfangen, da jeder derartige

Versuch zwangsläufig polarisierend wirkt und mehr Pro-

bleme schafft, als er zu lösen vermag.

Entsprechend gilt es, die potentiellen Gefahren jedwe-

der geschichtspolitischen Initiative zu erkennen, die auf

eine gesetzgeberische Regelung von Vergangenheit und

die Erinnerung daran zielt: Selbst wenn dahingehende

Rechtsakte von den edelsten Motiven geleitet sein mögen,

40 Beispielhaft für die „Politik des Bedauerns“, nicht zuletzt für die ihr inne-

wohnende Symbolik, war der Kniefall von Warschau des deutschen Bun-

deskanzlers Willy Brandt im Jahr 1970 als Geste der Demut und der Ent-

schuldigung gegenüber den Opfern des Aufstands im Warschauer Ghetto

von 1943.

41 Erich Fromm: Man from Himself: An Inquiry into the Psychology of Ethics.

London 1999 (Original 1947), S. 239.

42 Michel Foucault: The Order of Things: An Archaeology of the Human Sci-

ences, London 1970.