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Europäische Erinnerungspolitik

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

man bedenkt, dass Kolonialismus und Imperialismus sowie

ihre Folgen für die Geschichte und vielfach auch Gegenwart

praktisch aller europäischen Länder und Nationen prägend

waren: sei es, dass sie selbst als Kolonial- oder Imperialmacht

auftraten, sei es, dass sie unter der hegemonialen Fremdherr-

schaft einer anderen (europäischen) Macht standen.

Fehlende Anreize zur kritischen Aufarbeitung von

Geschichte auf nationalstaatlicher Ebene

Die Reduktion von historischem Gedächtnis auf Natio-

nalsozialismus und Stalinismus, die zu einem „negativen

Gründungsmythos“ der EU erhoben werden, birgt dar-

über hinaus die Gefahr, Anreize zur kritischen Hinterfra-

gung von Stereotypen und „heiligen Kühen“ nationaler

Geschichte zu mindern und Debatten um gemeinsame

europäische Verantwortung für die Vergangenheit in den

Hintergrund zu drängen. „Vergangenheitsbewältigung“

auf supranationaler Ebene impliziert auch die Frage nach

gemeinsamer Verantwortung für die Geschichte. Selbstre-

dend ist es einfacher, eine europäische Dimension erken-

nen zu wollen, wenn auf positive Aspekte eines argumen-

tierten europäischen Erbes abgehoben wird, zum Beispiel

die Aufklärung. Doch wenn man unterstellt, dass die Auf-

klärung weniger ein speziell französisches, englisches oder

deutsches, sondern vielmehr ein europäisches Erbe ist,

sind dann nicht in gewissem Sinne auch die Weltkriege,

die Shoah oder die Gulags europäisch?

Auch wenn Verantwortlichkeit niemals zu gleichen Tei-

len zugewiesen werden kann und darf, so scheinen dennoch

ein kritischerer Ansatz und ein inklusiveres Verständnis von

Verantwortung für die Vergangenheit, die den Nationalsozi-

alismus nicht als ausschließlich deutsches, die Gulags nicht

als allein sowjetisches Problem begreifen, und etwa nationale

Legenden von heroischem Widerstand gegen Totalitarismus

nicht unhinterfragt akzeptieren, zwingend nötig. Im wissen-

schaftlich-akademischen Bereich wurde bereits Erhebliches

geleistet, gemeinsame europäische Verantwortung für histori-

sche Errungenschaften wie historisches Versagen aufzuzeigen.

Auf den Ebenen der Politik und des öffentlichen Diskurses

jedoch scheint der Reiz klarer Schwarz-Weiß-Schemata allzu

verlockend, um in absehbarer Zeit an Bedeutung zu ver-

lieren: Sie erlauben es, mit Verweis auf vermeintliche oder

tatsächliche Schuld und historische Verfehlungen anderer

(politisches) Kapital zu schlagen und sich zugleich kritischen

Fragen nach der eigenen Vergangenheit zu entziehen.

Die weithin verbreitete Verknüpfung von historischem

Gedächtnis und Moralität, so lässt sich konstatieren,

erweist sich als höchst gefährliches Unterfangen, das,

anstatt zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit beizu-

tragen, den Nährboden für neue Konflikte schafft. Doch

welchen Beitrag kann die europäische Ebene eingedenk

des bislang Skizzierten realistischerweise zur Überwin-

dung von Nationalisierung und politischer Instrumenta-

lisierung von Erinnerung leisten? Dies führt zu einigen

abschließenden Überlegungen zur möglichen zukünftigen

Ausgestaltung europäischer Erinnerungspolitik.

Perspektiven transeuropäischer Erinnerungspolitik

Zusammenfassend lassen sich die bestehenden gedächtnis-

und erinnerungspolitischen Initiativen der EU als durch-

aus ambitioniert und aktiv beschreiben, sie sind zugleich

jedoch durch sehr spezifische historische Referenzen cha-

rakterisiert und verfolgen ein kaum verhülltes politisches

Kalkül von Selbstlegitimierung und europäischer Identi-

tätsbildung. So wie allen Versuchen, historisches Gedächt-

nis zu kollektivieren, sind auch und im Besonderen euro-

päischen Bestrebungen in diese Richtung klare Grenzen

gesetzt. Es erweist sich als schwierig, die Pluralität von

bestehenden Erinnerungskulturen – nationalen, aber auch

regionalen – auf übergeordneter Ebene auf einen gemein-

samen Nenner zu bringen. Hinzu kommt die Divergenz

zwischen fixen und mit einer quasi-universalen Deutung

versehenen historischen Bezugspunkten wie dem Holo-

caust einerseits, den sich aus dem Wechsel der Generatio-

nen notwendig ergebenden Änderungen von historischem

Bewusstsein und Prioritäten der Erinnerung andererseits.

Vor diesem Hintergrund sind Versuche, ein statisches

Rom, 25. März 1957: Bundeskanzler Konrad Adenauer (5.v.l.) und Walter

Hallstein, Staatssekretär im Bundeskanzleramt (6.v.l.), im Rathaus der

italienischen Hauptstadt bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge

über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische

Atomgemeinschaft (EURATOM). Weitere Mitglieder waren Frankreich, Italien

und die Benelux-Staaten.

Foto: ullstein bild