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Władysław Bartoszewski, der Brückenbauer

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Deutsch–polnischer Dialog

Um das Verbindende zu finden muss man sich kennen,

mehr voneinander wissen, sich nicht von Vorurteilen leiten

lassen. Bald nach seiner Entlassung aus dem stalinistischen

Gefängnis im August 1954 stieß Bartoszewski auf weitere

Informationen über die Geschwister Scholl, die „Weiße

Rose“ und Bischof Graf Galen. Dies führte zu Reflexionen

über den zerstörerischen Einfluss von Totalitarismen auf

das Schicksal des Einzelnen. Bartoszewski überlegte, dass

Hans Scholl, nicht viel älter als er, während seines Wehr-

machtdienstes in Polen in Warschau gewesen und sie sich

auf der Straße begegnet sein könnten. Trotz einer – wie

wir heute wissen – ähnlichen geistigen Einstellung wäre

es nicht möglich gewesen ins Gespräch zu kommen. Zwi-

schen beiden klaffte ein Abgrund. Ein Abgrund, der stets

Begleitelement einer Diktatur und eines Totalitarismus ist.

Menschen werden zu Schachfiguren, die ihrer Individuali-

tät beraubt werden sollen. 

22

Solche Überlegungen bestärk-

ten in Bartoszewski die Auffassung, dass Dialog ungeheuer

wichtig sei. Ähnliche Einstellungen fand er in der Redak-

tion des

Tygodnik Powszechny

, der er seit 1957 angehörte.

Während des sogenannten „Tauwetters“ 1956 kam es

auch in Polen

zu einer gewissen politischen Lockerung.

Es entstanden die „Clubs der Katholischen Intelligenz“

und nach dreijähriger Zwangspause durfte die katholisch-

liberale

Tygodnik Powszechny

wieder erscheinen. Hier

sammelten sich Menschen, die eine Alternative und eine

intellektuelle Nische suchten gegen das staatlich diktierte

Denkmodell. Von daher zeichnete sich die Gruppe um

Tygodnik Powszechny

durch große Offenheit aus. Ver-

ständlicherweise war die Redaktion deshalb Anlaufstelle

für vorsichtige informelle Gespräche mit Deutschen. Die

ersten Kontakte bestanden mit Vertretern der „Aktion Süh-

nezeichen“. Es folgten Begegnungen mit Mitgliedern der

Deutschen Sektion von „Pax Christi“ und des Maximilian-

Kolbe-Werkes. Um die deutschen Gäste kümmerte sich

meistens Bartoszewski und konnte so nicht nur diverse

Kontakte knüpfen, sondern auch Einblick gewinnen in die

herrschende Stimmungslage in Deutschland. Die sechzi-

ger Jahre sind eine Zeit des Anstoßes reger Aktivitäten in

den deutsch-polnischen Beziehungen, insbesondere durch

die Denkschrift der EKD vom 1. Oktober 1965 und

den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe

vom 18. November und 5. Dezember 1965 am Ende des

II. Vatikanischen Konzils. Da aber das Reisen ins westliche

22 Władysław Bartoszewski: 0 Niemcach i Polakach. Wspomnienia. Prognozy.

Nadzieje (Über Deutsche und Polen. Erinnerungen. Prognosen. Hoffnun-

gen), hg. v. Rafał Rogulski u. Jan Rydel, Kraków 2010, S. 36 f.

Ausland für Bürger der Volkrepublik Polen nur erschwert

möglich war, konnte Bartoszewski erst im Mai 1965

Deutschland zum ersten Mal besuchen. Er reiste auf Ein-

ladung der Zeitschrift „Dokumente“ an, die sich haupt-

sächlich mit deutsch-französischen Themen im europäi-

schen Kontext beschäftigte – also eine für die polnischen

Passbehörden genügend unverfängliche Einladung, sodass

die Reise genehmigt wurde. In den Jahren 1969, 1975 und

1976 folgten weitere Reisen nach Deutschland und in den

achtziger Jahren mehrere längere Aufenthalte als Gastpro-

fessor an bayerischen Hochschulen. Bartoszewski nutzte

diese Reisen zu intensiven Gesprächen und vielen Begeg-

nungen, hielt Vorträge und nahm an Diskussionen, auch

mit Schülerinnen und Schülern, teil. Dabei war ihm stets

der Gedankenaustausch wichtig, um einander näher zu

kommen. Seine Beschäftigung mit der neuesten Geschichte

war nicht Selbstzweck, sondern auf die Zukunft ausgerich-

tet. Die Kenntnis der Geschichte soll uns vor Rückfällen

in Hass und Barbarei bewahren, soll uns deutlich machen,

wie brüchig und gefährdet die moderne Zivilisation ist, in

der Freiheit und friedliches Zusammenleben der Menschen

nicht selbstverständlich sind, sondern stets aufs Neue erar-

beitet werden müssen. Dieser auf die Zukunft hin gerich-

tete Blick ist vielleicht der Grund, weshalb ihm die Arbeit

mit Studenten in Lublin und vor allem auch in Bayern so

viel Freude bereitete.

Diesen historisch geschulten Blick auf die Zukunft

konnte Bartoszewski in ganz anderer Form zur Anwendung

bringen, als er nach dem Zusammenbruch des kommunis-

tischen Systems in Polen 1989 politische Ämter übernahm.

Ein wichtiger Moment war, als Bartoszewski als Außen-

minister der Republik Polen in Bonn am 28. April 1995

während der Sondersitzung von Bundestag und Bundesrat

anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes eine vielbe-

achtete Rede hielt. Er bezog sich dabei auf die zehn Jahre

zurückliegende, wegweisende Rede Richard von Weizsä-

ckers vom 7. Mai 1985. In seinem historischen Exkurs

ging Bartoszewski auch auf das schmerzliche Thema des

Heimatverlustes ein. Er sagte: „Während des Krieges und

nach seiner Beendigung mussten Millionen von Men-

schen ihre Heimat verlassen. Für viele Polen waren dies

Gebiete jenseits des Bug und für viele Deutsche östlich

von Oder und Neiße. […] Ich möchte es offen ausspre-

chen, wir beklagen das individuelle Schicksal und die Lei-

den von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfol-

gen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben.“ 

23

23 Bartoszewski (wie Anm. 2), S. 163 f.