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Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
Wachstumsraten aber ein vorläufiges „historisches Tief in
der Geschichte der Sowjetunion“ erreicht.
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Der sklero-
tische Zustand der Sowjetordnung offenbarte sich in der
Wirtschaft in den immer bedrohlicher werdenden Ver-
schleißerscheinungen, Modernisierungsrückständen und
Erschöpfungsproblemen. Die 1970er Jahre markierten
einen Epochenbruch. Das Jahrhundert der Schwerindus-
trie, das den Weg in die Moderne gebahnt und Europa
zu einem waffenstarrenden Kontinent gemacht hatte,
neigte sich seinem Ende zu. Neue Basisinnovationen wie
die Mikroelektronik, die Laser- und Satellitentechnik, die
Informations- und Biotechnologie veränderten nicht nur
Produktions- und Lebensweisen; sie forcierten im Zusam-
menhang mit neuen Finanzdienstleistungen auch globale
Wirtschaftskreisläufe. Mit dem Übergang zur postindust-
riellen Gesellschaft wurden während der 1970er Jahre die
entscheidenden Weichen für den Aufstieg der digitalen
und globalen Moderne des 21. Jahrhunderts gestellt.
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Der beginnende Technologisierungs- und Globalisie-
rungsschub hielt die Moskauer Partei- und Staatsführer
aber nicht dazu an, von ihrem „ökonomischen Kernglau-
35 Gerd Simon/Nadja Simon: Verfall und Untergang des sowjetischen Impe-
riums, München 1993, S. 17.
36 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven
auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Zu den sozialistischen
Ländern vgl. Marie-Janine Calic/Dietmar Neutatz/Julia Obertreis (Hg.):
The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the
1970s, Göttingen 2011.
ben“ abzulassen. Sie setzten weiter auf das Wirtschafts-
modell der rauchenden Schlote und schufen deshalb
Anfang der 1980er Jahre die „beste Wirtschaft der Welt
nach den Maßstäben der 1890er Jahre“.
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Mit dem end-
gültigen Abschluss ihres Reifungsprozesses verpasste die
Sowjetökonomie den Anschluss an den Strukturwandel
der Industriemoderne und büßte damit an internationaler
Wettbewerbsfähigkeit ein.
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Das zeigte sich an der Struktur des sowjetischen Außen-
handels. Während die Sowjetwirtschaft immer weniger
Maschinen, Fahrzeuge und Industrieanlagen exportieren
konnte, stieg der Anteil der Energieträger und Brennstoffe
am sowjetischen Gesamtexport bis 1985 schließlich auf
knapp 54 Prozent an. Die dadurch erzieltenGewinne muss-
ten ausgegeben werden, um zum einen die dringend benö-
tigten modernen Maschinen, Technologien und anderwei-
tige hochwertige Verbrauchsgüter im Ausland zu erwerben,
zum anderen immer größere Mengen an Getreide, Fleisch
und anderen Nahrungsmitteln zu importieren. Die sow-
jetische Landwirtschaft erhielt in den 1970er und 1980er
Jahren zwar zunehmend mehr Subventionen; sie war aber
dennoch nicht in der Lage, die Versorgung des Landes zu
37 Eric J. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahr-
hunderts, München 1998, S. 312.
38 Eine gute zeitgenössische Analyse, die bis heute nicht an Bedeutung ver-
loren hat, bietet Klaus Segbers: Der sowjetische Systemwandel, Frankfurt/
Main 1989.
„Fass ohne Boden“ - Die sowjetische Landwirtschaft konnte die Bevölkerung trotz hoher Subventionen nur unzureichend versorgen.
Foto: ullstein bild – SPUTNIK