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Von der Perestroika zur Katastroika

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

beigetragen hatte, den enormen Kaufkraftüberhang in der

Bevölkerung zumindest zu einem Teil abzuschöpfen. Die

Alkoholsteuern leisteten einen erheblichen Beitrag zum

sowjetischen Staatshaushalt. Die drastische Einschrän-

kung der Alkoholproduktion stürzte darum nicht nur die

sowjetischen Trinker, sondern auch das Moskauer Finanz-

ministerium in eine akute Liquiditätskrise. Das staatliche

Haushaltsdefizit wuchs enorm an. Statt zu unpopulären

Maßnahmen wie der Kürzungen von Sozialleistungen und

Löhnen, zu Steuer- und Preiserhöhungen zu greifen, ließ

die Regierung einfach mehr Geld drucken. Der Bargeld-

umlauf nahm infolgedessen beträchtlich zu; das gab der

Inflation starken Auftrieb. Der Rubel geriet zudem durch

die stark wachsenden Auslandskredite unter immer größe-

ren Druck, weil diese hohe Schuldenlast durch die Leis-

tungskraft der sowjetischen Volkswirtschaft kaum mehr

abgedeckt war. Aus Angst, mit schmerzhaften Einschnit-

ten den gesellschaftlichen Rückhalt für die Perestroika zu

verlieren, konnten sich Staat und Partei nicht zu einer

koordinierten Finanz- und Währungspolitik durchringen.

Sie ließen die staatlichen Steuerungsinstrumente unge-

nutzt und verloren damit bald jeglichen Zugriff auf die

Wirtschaftskreisläufe. 

59

Vommaroden zum bankrotten Sozialismus, 1989–1991

Angesichts der sich zuspitzenden „Krimstagflation“ (der

galoppierenden Inflation und Kriminalität bei fortgesetz-

ter Stagnation) musste im Laufe des Jahres 1989 auch

das zweite wirtschaftspolitische Reformvorhaben Gorba-

tschow abgebrochen werden. Bei der fieberhaften Suche

nach einem neuen Konzept ging es nun nicht mehr so

sehr um einen Systemwandel der zentralisierten Kom-

mandowirtschaft, sondern um einen grundsätzlichen

Systemwechsel hin zur Marktwirtschaft. Dafür arbei-

teten sowjetische Expertenkommissionen eine Vielzahl

von unterschiedlichen Übergangsmodellen aus. 

60

Zuerst

setzten Gorbatschow und sein Ministerpräsident Nikolaj

Ryschkow (*1929) auf einen graduellen Transformations-

prozess innerhalb von fünf Jahren. Als aber die paralysie-

renden Effekte der schrittweise angelegten Reformpolitik

immer evidenter wurden, meinten im Verlauf des Jahres

1990 immer mehr Fachleute, dass sich die marode sow-

jetische Volkswirtschaft nur mit gerafften, schockartigen

Wandlungsprozessen in Form konsequenter Privatisie-

59 Alec Nove: An Economic History of the U.S.S.R., 1917–1991, London 1992,

S. 418 f.

60 Zum Wettstreit der Reformmodelle und zum Zick-Zack-Kurs Gorbat-

schows vgl. Hanson (wie Anm. 49), S. 218–235.

rungs- und Deregulierungsstrategien wiederbeleben lasse.

Es gelte, sich mit schmerzhaften Kraftanstrengungen vom

bremsenden Alten zu trennen, um so endlich einen wirk-

lichen Neustart beginnen zu können. 

61

Dieses radikale „Programm der 500 Tage“ fand anfäng-

lich Gorbatschows Unterstützung. Im Herbst und Winter

1990 vollzog der sowjetische Präsident aber eine abrupte

Kehrtwende. Er ersetzte Ende 1990 den frustrierten Minis-

terpräsident Ryschkow durch den Parteikonservativen

Valentin

Pawlow (1937–2003), der wieder stärker Bezug

auf überlieferte Sozialismusmodelle und traditionsgeprägte

Ordnungsmuster nahm. Durch diesen Zick-Zack-Kurs ver-

lor die Wirtschaftsreform erheblich an Schwung und ließ

jede Transformationsstrategie zur Makulatur werden. Die

von Pawlow ergriffenen Maßnahmen erwiesen sich ledig-

lich als unkoordinierter Aktionismus, der keine krisenüber-

windende Stabilisierung einzuleiten vermochte. 

62

Der sowjetische Ökonom Grigori Jawlinski, der als

neoliberaler Wirtschaftsreformer maßgeblich am „Pro-

gramm der 500 Tage“ mitgeschrieben hatte, erklärte später

in einem Interview, Gorbatschow hätte keinerlei Ahnung

von der Wirtschaft gehabt. „Er wollte ein bisschen Markt-

wirtschaft. Aber so funktioniert das nicht. Ebenso wenig

wie ‚ein bisschen schwanger‘ funktioniert.“ 

63

Schon 1990 war die sowjetische Mangelökonomie in

eine tiefe Versorgungskrise gestürzt. Immer mehr Waren –

darunter nun wichtige Nahrungsmittel – verschwanden

aus den Geschäften. Nur humanitäre Hilfslieferungen aus

dem Westen verhinderten oftmals noch das Schlimmste. 

64

Als im Sommer 1991 die letzten Devisenreserven aufge-

braucht worden waren und die Sowjetunion damit unmit-

telbar vor dem Staatsbankrott stand, ging die Talfahrt in

einen Absturz über. Im Juli 1991 bat Gorbatschow fle-

hentlich um weitere Milliardenkredite, die ihm der Westen

aber verweigerte, weil er kein schlüssiges Wirtschaftskon-

zept vorlegen konnte. Gorbatschows politische Freunde im

In- und Ausland erschraken damals über das Wehklagen

eines verzweifelten Mannes, dem die Kontrolle über sein

61 Zum Aufstieg der Schocktherapie und des Neoliberalismus vgl. Philipp

Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des

neoliberalen Europa, Berlin 2014.

62 Brown (wie Anm. 15), S. 248–258.

63 Vgl. Ignaz Lozo: Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjet-

union, Köln 2014, S. 33.

64 Im Sommer 1990 gründete sich z.B. in Deutschland die zivilgesellschaftli-

che Initiative „Helft Russland“, der die Bundesbürger bis Jahresende rund

800 Mio. Mark für humanitäre Zwecke spendeten. Das war die bis dahin

größte Spendenaktion der bundesdeutschen Geschichte. Vgl. Lozo (wie

Anm. 63), S. 32 u. 425, Anm. 21.