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Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
technik lag die Sowjetunion weiterhin zwei Rechnerge-
nerationen hinter dem Westen zurück. Der Super-GAU
im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April
1986 wurde dann zum Offenbarungseid einer maroden
Wirtschaft, die sich ganz dem Glauben an die segens-
bringende Kraft moderner Technologie hingegeben hatte.
Der Physiker Wladimir Tschernousenko, ein verlässlicher
Chronist der Ereignisse in Tschernobyl, schrieb damals:
„Das Feuer von Tschernobyl hat Licht in die dunklen
Ecken unseres Systems gebracht, jene Winkel und Orte,
die zu übersehen wir so lange bestrebt waren, über die wir
schamhaft den Mantel des Schweigens gebreitet haben.“
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Auf dem großen Benefiz-Konzert, das bekannte sowjeti-
sche Musiker im Juni 1986 veranstalteten, hieß es dazu
ernüchternd, das technikbesessene 20. Jahrhundert habe
mit der nuklearen Katastrophe offensichtlich „seinen Ver-
stand verloren.“
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Mit dem Ende der naiven Technikgläu-
bigkeit scheiterte der erste wirtschaftliche Reformversuch.
47 Wladimir M. Tschernousenko: Tschernobyl. Die Wahrheit, Reinbek bei
Hamburg 1992, S. 72.
48 Johannes Grotzky: Schachmatt. Die letzten Jahre der Sowjetunion unter
Michail Gorbatschow, Norderstedt 2012, S. 119.
Gorbatschow und seine Berater beklagten sich tief frust-
riert darüber, dass große Investitionssummen für techni-
sche Innovationen ausgegeben worden waren, der ökono-
mische Wachstumsmotor aber auch dadurch nicht wieder
in Schwung kam. Damit war klar, dass es für eine Trend-
wende eines grundlegenden Strukturwandels bedurfte.
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Die fortschreitende Zerrüttung des Wirtschafts- und
Finanzsystems, 1987–1989
Die 1987 beginnende ökonomische Perestroika lavierte
fortan zwischen den Zielen, durch die Einführung neuer
marktwirtschaftlicher Mechanismen das bestehende Wirt-
schaftssystem entweder nur zu reparieren oder es durch
die Radikalisierung der Reform ganz zu überwinden. Bei
seinem Kurs des „
trial-and-error
“
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setzte Gorbatschow
zunächst weiter auf einzelne Reparaturmaßnahmen, um
die zentralisierte Kommandowirtschaft durch die Zulas-
sung von mehr Wettbewerb und Eigeninitiative zu flexi-
49 Philip Hanson: The Rise and Fall of the Soviet Economy. An Economic
History of the USSR from 1945, London 2003, S. 181–187.
50 Ebd., S. 192.
Atomkraftwerk Tschernobyl: Ansicht des zerstörten Reaktors 4. Der Reaktorkern explodierte am 26. April 1986.
Foto: ullstein bild – Reuters