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Von der Perestroika zur Katastroika

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

„Belastungsprobe für die Ideale der Perestrojka und das

Vertrauen zu ihr“ dar. Andere sozialistische Länder könn-

ten womöglich auf die Idee kommen, die „entschlossene

Durchführung der wirtschaftlichen und politischen Refor-

men“ auszusetzen und stattdessen versucht sein, ebenfalls

auf kurzsichtige Weise per Gewalteinsatz die bestehenden

Machtverhältnisse zu stabilisieren. 

13

Vor dem Hintergrund der blutigen Ausschreitungen

auf dem Platz des Himmlischen Friedens avancierte Gor-

batschow mit seinem Bekenntnis zum „Dialog mit dem

Volk auf demokratischer Basis“ zum Gewährsmann dafür,

dass die Reformprozesse im östlichen Europa nicht auf

13 Zur kritischen Moskauer Bewertung der Ereignisse in Peking vgl. die Be-

richte der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU Ende

Juni 1989, die in deutscher Übersetzung abgedruckt sind in: Stefan Karner

u.a. (Hg.): Der Kreml und die Wende 1989, Wien 2014, S. 377–380 u.

384–387.

blutige Weise aus dem Ruder liefen. Mit dem Wohlwol-

len des Kremls setzten sich in Polen und Ungarn, in der

Tschechoslowakei und der DDR die reformorientierten

Regierungs- und Parteikreise mit der gesprächsbereiten

Opposition an einen „runden Tisch“, um auf friedlichem

Weg das gescheiterte sozialistische Gesellschaftsexperi-

ment zu beenden.

Vom „Sozialismus der Bajonette“ zum „Sozialismus

mit menschlichem Antlitz“

Gorbatschows rigide Ablehnung des „chinesischen Wegs“

erklärt sich aus den Erfahrungen seiner Generation heraus.

Der besonders im Vergleich zu seinen greisen Vorgängern

jung und dynamisch erscheinende Generalsekretär, der im

März 1985 im Alter von 54 Jahren in den Kreml einzog,

war ein „exemplarisches Produkt des Sowjetsystems“ und

gläubiger Repräsentant eines idealistischen Sozialismus. 

14

Geboren um das Jahr 1930 herum, gehörten Gorbatschow

und seine wichtigsten Mitstreiter zu den „Kindern des 20.

Parteitags“ und damit zu derjenigen Generation, die in der

Phase des Tauwetters und der Entstalinisierung nach 1956

einerseits erstmals die Verbrechen des Stalinismus thema-

tisierte, sich andererseits aber auch von der mitreißenden

Romantik des Übergangs zum Kommunismus anstecken

ließ, mit der Chruschtschow die Zukunft und die Men-

schen für die Sowjetunion gewinnen wollte. Zugleich

hatten die „Kinder des 20. Parteitags“ die Kehrseite der

Entstalinisierung erleben müssen, als 1956 und später

noch einmal 1968 sowjetische Panzer in Ungarn und der

Tschechoslowakei den Traum von einem reformierten

Sozialismus mit menschlichem Antlitz zerschossen. 

15

Edu-

ard Schewardnadse (1928–2014), der als Außenminister

Gorbatschows „Neues Denken“ in eine auf Abrüstung,

Versöhnung und Zusammenarbeit zielende internatio-

nale Politik umsetzte, schrieb, dass seine Generation „den

‚Komplex des Jahres 1956‘ – den Komplex der Ablehnung

von Gewalt als Methode und Prinzip der Politik“ mit sich

herum trug. 

16

Im Juli 1986 – 30 Jahre nach dem Einmarsch sowjeti-

scher Truppen in Ungarn – erklärte darum Gorbatschow

auf einer Politbürositzung, dass er zu keinerlei militäri-

14 Kotkin (wie Anm. 9), S. 57.

15 Zur Biographie Gorbatschows und dem politischen Erfahrungshintergrund

seiner Generation vgl. Archie Brown: Der Gorbatschow-Faktor. Wandel

einer Großmacht, Frankfurt 2000, S. 57–100; György Dalos: Gorbatschow.

Mensch und Macht, München 2011, S. 23–54.

16 Eduard Schewardnadse: Die Zukunft gehört der Freiheit, Reinbek bei

Hamburg 1991, S. 69.

Mai 1989: Kundgebung für mehr Freiheit in Peking: Studenten führen im

Demonstrationszug Transparente mit der Aufschrift ‚Glasnost und Perestroika‘

mit sich.

Foto: ullstein bild – dpa