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Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
schen Maßnahmen gegenüber den „Brüderländern“ mehr
greifen würde. „Wie es war, darf es nicht weitergehen.“
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Damit machte er schon zu Beginn seiner Amtszeit klar,
dass der Verzicht auf den Einsatz von Gewalt sein poli-
tisches Denken und Handeln prägen würde. Der Sozia-
lismus dürfe – so erklärte Gorbatschow seinen Beratern
im Juli 1988 – „nicht länger als Macht erscheinen, die
sich auf Bajonette stützt und aggressive Absichten hat.“
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Deshalb gelte es, sich wieder auf die wahren Lehrens
Lenins und dessen angebliche Visionen eines demokrati-
schen Sozialismus zu besinnen. Für Gorbatschow war der
Sozialismus kein starres Modell, sondern „ein lebendiges
Werk“ in einem beständigen „Selbstperfektionierungs-
prozess, der nie zum Stillstand kommen wird.“
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Nicht
Repression und Unterdrückung, sondern die ehrliche
„Sorge um den Menschen“ und die soziale Gerechtigkeit
müssten fortan als das „Kernstück des Sozialismus“ her-
ausgestellt werden.
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Von der Stagnation zur Perestroika
Als Gorbatschow im März 1985 an die Schalthebel der
Macht im Kreml kam, rechnete er schon bald mit der Poli-
tik des „Durchwurstelns“ der zuvor regierenden Bresch-
new-Generation ab. Mit heftigen Worten prangerte er
„die Welt des vorgetäuschten Wohlstands“
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an, beklagte
„Glaubwürdigkeitsverluste, Lobhudelei und Kriecherei“
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und verkündete lautstark: „So kann man nicht weiterle-
ben“.
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Seinen Vorgängern warf Gorbatschow unverblümt
vor, sie hätten die transformative Dynamik der Zeit ver-
passt und so die Sowjetunion „abseits jenes großen Stroms
der Modernisierung und gesellschaftlichen Erneuerung“
gestellt.
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Seit den späten 1970er Jahren „nahmen darum
die Probleme in der Entwicklung des Landes schneller zu,
als dass sie gelöst wurden“. Durch diesen Stagnationskurs
geriet „die Gesellschaft als Ganzes immer mehr außer
Kontrolle […] Unser Land driftete in eine Krise ab.“
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17 Der Auszug aus Gesprächsnotizen der Politbürositzung ist abgedruckt in:
Karner (wie Anm. 13), S. 122.
18 Ebd., S. 179.
19 So Gorbatschow in einer Rede im Februar 1985, zit. n. Karner (wie Anm. 13),
S. 78.
20 Michail Gorbatschow: Glasnost. Das neue Denken, Berlin 1989, S. 26 u. 28.
21 Michail Gorbatschow: Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine
neue Politik für Europa und die Welt, München
2
1989, S. 24.
22 Ebd., S. 23.
23 Michail Gorbatschow: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 256.
24 Ebd., S. 214 ff.
25 Gorbatschow (wie Anm. 21), S. 25 f.
Ähnliche, sich verschärfende Probleme und „Bremsme-
chanismen“ seien auch in anderen sozialistischen Ländern
erkennbar. Das lasse – so Gorbatschow – darauf schließen,
dass die Krisenfaktoren „im wirtschaftlichen und politi-
schen Modell des Sozialismus selbst wurzeln, wie es sich
bei uns formierte.“
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Trotz dieser selbstdiagnostizierten „Deformationen“
und „Paradoxien“ legte Gorbatschow 1987 in seinem
Weltbestseller „Perestroika. Die zweite russische Revolu-
tion
“
ein erneutes Glaubenskenntnis ab, dass der Sozia-
lismus nicht nur der Sowjetunion, sondern der gesamten
Welt Fortschritt und Frieden bringen könne, wenn sein
gesellschaftliches Gestaltungspotential durch eine von
der „Sorge um den Menschen“ getragenen Politik zur
vollen Entfaltung gebracht werden könnte. Gorbatschow
beschwor nicht mehr die ideologischen Gegensätze zur
westlichen Gesellschaftsordnung, sondern betonte viel-
mehr die gemeinsamen humanistischen Werte und damit
die Nähe derjenigen Systeme, die zuvor im Kalten Krieg
immer in Konkurrenz und Konflikt miteinander gesetzt
worden waren.
Mit geradezu überschießender Motivation zielte Gor-
batschows Perestroika – was übersetzt „Umbau“ bedeu-
tet – auf eine grundsätzliche Neuorientierung des politi-
schen Denkens und Handelns, um sowohl im Äußeren
als auch im Inneren den Weg der Verständigung und
Versöhnung zu gehen und so die Welt für alle sicherer
zu machen.
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Ähnlich wie Franklin D. Roosevelt in den
1930er Jahren mit seiner Politik des New Deal „den ame-
rikanischen Kapitalismus rettete“, wollte Gorbatschow als
sozialistischer „Gesinnungstäter“ einen neuen Aufbruch
ins Zeitalter des Kommunismus wagen.
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Seine hoffnungsvollen Appelle an die gemeinsamen
humanistischen Werten und den Weltfriedens machten
den Aufbruch verheißenden Generalsekretär spätestens
1988 zum „Darling“ der Weltöffentlichkeit. Gorbatschow
bezog aus dieser internationalen Popularität politische
Stärke und Selbstbewusstsein. Als „letzter Leninist“
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im
Kreml irritierte ihn aber, dass im Westen der „sozialisti-
schen Charakter unserer Perestroika“ oft völlig verkannt
werde. Es ginge keinesfalls darum, den Sozialismus abzu-
schaffen, sondern seine Schwächen zu beseitigen, um ihm
26 Karner (wie Anm. 13), S. 224.
27 Zu Perestroika als „konzeptionellem Überbegriff“, seiner Unschärfe und Mehr-
deutigkeit vgl. Brown (wie Anm. 15), S. 209–212.
28 Karner (wie Anm. 13), S. 242 f.
29 Dmitri Wolkogonow: Die sieben Führer, Frankfurt/Main 2001, S. 432.