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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
diese würden das syrische Regime und die Kurden bekämp-
fen, mit deren Unabhängigkeitsbestrebungen die Türkei
bekanntermaßen selbst beschäftigt ist. In der Tat war eher
festzustellen, dass Assad und der IS sich lange stillschwei-
gend duldeten – während sich jeder erst einmal um andere
Gegner „kümmerte“. Gegen die Kurden jedoch blieb der
IS nur mäßig erfolgreich. Das Kalkül Ankaras ging auch
insbesondere deshalb nicht auf, weil sich die Aktivitäten
des IS bald auch im eigenen Land bemerkbar machten: Er
bekannte sich zu mehreren Terroranschlägen in der Türkei.
Für die internationalen Medien wurde es zunehmend
schwerer, verlässlich über die Lage in Syrien zu berich-
ten: Das Assad-Regime ließ westliche Journalisten schon
bald nicht mehr einreisen, mit zunehmender Eskalation
des Krieges stieg die Gefahr für unabhängige Bericht-
erstatter. Heute wagen sich nur noch die wenigsten ins
Krisengebiet. Der 25-jährige Kölner Germanistik-Student
Hubertus Koch hat es getan. Anfang des Jahres 2014
begleitete er den Exilsyrer Mahmoud Dahi in ein Flücht-
lingslager knapp hinter der türkischen Grenze. Heraus
kam ein unkonventioneller Dokumentarfilm namens
„Süchtig nach Jihad. Der Film eines kleinen Jungen“.
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55 Den Film kann man auf der Online-Plattform YouTube ansehen: https://
www.youtube.com/watch?list=PLpr-NGsAGodH-qLTlmoLIUYS7vl-k7TxB&v=siP-8fJ29X4 [Stand: 14.02.2016]. Eine stark geschnittene
Version lief auch in der ARD-Sendung Weltspiegel:
http://www.daserste.
de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/videos/syrien-ein-
schwarzes-loch-110.html [Stand: 14.02.2016].
Mit dem Untertitel meint
der Student sich selbst,
doch ein anderer klei-
ner Junge aus dem Film
bleibt im Gedächtnis:
Der 11-Jährige mit Ziga-
rette im Mund entsichert
ein AK-47-Sturmgewehr
und sagt „Ich will Bashar
Assads Schwester ficken
und ihn verprügeln!“ Im
Film wird er als „kleins-
ter Junge der Freien
Armee“ bezeichnet. Seine
Eltern seien im Krieg
ums Leben gekommen,
die Kämpfer der Freien
Syrischen Armee hätten
ihn vor zwei Jahren ent-
deckt und aufgenommen.
Jetzt kämpfe er gegen den
IS. Im März 2013 warnte UNICEF vor einer „verlorenen
Generation“ in Syrien.
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Syrien ist ohne jeden Zweifel eine Tragödie, die ihres-
gleichen sucht. Das Land stirbt. Und auch Deutschland
spürt die Auswirkungen. Die
Refugees Welcome
-Rufe sind
hierzulande mittlerweile leiser geworden. Die sexuellen
Übergriffe der Silvesternacht in Köln haben viele verun-
sichert. Asylbewerber waren unter den Tätern, wohl auch
ein Syrer. Die Straftaten werden in deutschen Talkshows
wahlweise mit der arabischen Kultur oder der islamischen
Religion erklärt.
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Dass im Zuge solcher Argumentation
die Gefahr droht, dass Asylbewerber unter Generalver-
dacht gestellt werden, geht dabei allzu oft unter. Er gilt
auch immer häufiger den Syrern. Wie wehren sie sich
dagegen? Die einen verteilen am Kölner Hauptbahnhof
Blumen an Frauen, um sich von etwas zu distanzieren,
für das sie keinerlei Verantwortung tragen. Andere haben
eine
Facebook-
Gruppe gegründet. Sie heißt: „Syrer danken
Deutschland.“
56 United Nations Children’s Fund (UNICEF): Syria’s Children: A Lost Gene-
ration? Crisis Report March 2011-March 2013, Amman 2013; online:
https://www.unicef.ch/sites/default/files/attachments/unicef_pb_syria_2yearreport_2013.pdf [Stand: 14.02.2016].
57 Die Diskussion über problematische Geschlechterverhältnisse in Nahost,
notwendige Differenzierungen hinsichtlich verschiedener Länder und Mili-
eus sowie das „Wesen“ des Islam und muslimisch geprägter Gesellschaften
muss an anderer Stelle geführt werden.
Zerstörter Häuserzug in Damaskus, 26. Dezember 2015
Foto: ullstein bild/Fotograf: Valeriy Melnikov/Sputnik