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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
Vorbild von amerikanischen Wissenschaftlern auch eine
extreme Dürre vermutet,
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die Ernteausfälle und den Ver-
lust großer Teile des Nutzviehbestands im Nordosten Syri-
ens, der als Kornkammer des Landes gilt, verursachte. Viele
Menschen sahen sich gezwungen, die Landwirtschaft auf-
zugeben und in die Städte zu ziehen, um ihre Familien wei-
terhin ernähren zu können. Der Getreidepreis stieg mehr
als ein Viertel an; in den Vororten der Städte Daraa, Homs
und Hama kam es zu einer heftigen Konkurrenz um Jobs,
Wohnungen, Nahrung, Wasser und Energie, die die all-
gemeine Unzufriedenheit der Menschen verstärkte. Einen
konkreten Anlass der Proteste aber gab es – wie in Tune-
sien die Selbstverbrennung des Obsthändlers Mohammed
Bouazizi – auch in Syrien: In Daraa im Südwesten Syriens
waren im März 2011 15 Schulkinder verhaftet und gefol-
tert worden, nachdem sie – inspiriert von den tunesischen
und ägyptischen Protesten – „Das Volk will den Sturz des
Regimes“ an eine Mauer gepinselt hatten.
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Nachdem die
Eltern die Freilassung ihrer Kinder forderten, ließen die
Behörden sie wissen: „Macht neue“. Die Reaktion des
Regimes schien vielen Menschen Ausdruck dessen zu sein,
was sie tagtäglich erlebten: die Arroganz der Mächtigen
und die Verachtung ihrer eigenen Rechte. Friedlich gin-
gen sie auf die Straße, riefen erstmals nach politischer Ver-
änderung. Bereits bei der ersten größeren Demonstration
gab es Tote, da Sicherheitskräfte in die Menge schossen.
Die syrische Revolution hatte ihre ersten „Märtyrer“ und
die Aufstände breiteten sich auf weitere Städte aus. Wie in
anderen arabischen Ländern wurden neben der Forderung
nach einem Regimewechsel Missstände wie Korruption,
Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheiten ange-
prangert. Beliebtes Hassobjekt der Proteste wurde nament-
lich Bashar al-Assads Cousin Rami Makhlouf; stellvertre-
tend für die korrupte Elite wurde er als „Dieb“ beschimpft.
„Der größte humanitäre Notfall unserer Zeit“
Das syrische Regime zeigte sich zunächst weitgehend
unbeeindruckt von den Vorgängen in der Region. Ende
Januar 2011 gab ein selbstbewusster Bashar al-Assad dem
35 Zwischen 2006 und 2010 war der sogenannte „fruchtbare Halbmond“ an
den Flüssen Euphrat und Tigris von einer heftigen Dürre bedroht wor-
den, was sich in der Türkei, dem Irak und in Syrien bemerkbar machte.
Vgl. die Ergebnisse der Wissenschaftler Colin P. Kelley/Shahrzad Mohtadi/
Mark A. Cane/Richard Seager/Yochanan Kushnir: Climate Change in
the Fertile Crescent and Implications of the Recent Syrian drought, in:
PNAS 11 (2015); online:
http://www.pnas.org/content/112/11/3241.full.pdf?sid=1fc2cd17-ad51-4d5f-966f-69c5915a5547 [Stand: 13.02.2016].
36 Zum Verlauf der syrischen Proteste im ersten Revolutionsjahr vgl. Perthes
(wie Anm. 27).
Wall Street Journal
ein Interview, in dem er meinte, das
syrische Volk sei anders als etwa in Ägypten im Dialog mit
dem Regime; notwendige Reformen habe man hier längst
eingeleitet: „Man muss sehr nah an den Überzeugungen
des Volkes sein.“
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Sicher fühlte man sich in Damaskus ins-
besondere wegen des rigiden Herrschaftssystems und der
vermuteten Angst der Bevölkerung vor radikalen Umbrü-
chen.
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„Wie zuvor in Kairo und Tunis unterschätzte man
auch in Damaskus die Tiefe der Missachtung, die dem
Regime von einem großen Teil der Bevölkerung entgegen-
schlug, und die Bereitschaft von Teilen der jungen Gene-
ration, notfalls das eigene Leben für ihr Verständnis von
Würde, Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen“, schreibt
dazu Nahost-Experte Volker Perthes. Bashar al-Assads
Antworten suchen, seit er seinen großen Irrtum erkannte,
selbst unter den häufig brutalen Reaktionen der ange-
schlagenen arabischen Regime in anderen Ländern der
Region
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ihresgleichen: Sie hießen und heißen Massaker,
Folter, Fassbomben, Giftgas. Der UN-Flüchtlingskommis-
sar Antonio Guterres bezeichnete Syrien bereits im August
2014 als „größten humanitären Notfall unserer Zeit“.
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Exil-Syrerinnen und -Syrer blickten fassungslos auf
ihre Heimat, als sie sahen, wie das Regime seit Beginn der
Demonstrationen ihre einstigen Nachbarn, ihre Familien
und Freunde terrorisierte. Der Münchner Mohammad
Kahlawi ist einer von ihnen. „Wir sind an einem Punkt
angekommen, an dem wir nicht mehr die Anzahl der
Opfer zählen müssen, sondern die der Massaker“, stellte er
schon im Januar 2014 bitter fest.
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Seit 17 Jahren lebt der
Musiker und Aktionskünstler in der bayerischen Landes-
hauptstadt. Er sagt Sätze wie „Habe die Ehre“ und „Die
Stadt ist mir eine zweite Heimat geworden“. Seit Beginn
der Proteste in seiner ersten Heimat ist Kahlawi durch
ganz Deutschland gereist, um auf das Leid der Menschen
in Syrien aufmerksam zu machen. Er rief die Initiative
HutaafElhurriyyeh
(„Ruf nach Freiheit“) ins Leben, wirkte
bei Theaterstücken mit, organisierte zahlreiche Demons-
trationen. Kahlawi reiste in die Flüchtlingslager an der
37 Interview With Syrian President Bashar al-Assad, in: The Wall Street Jour-
nal, 31.01.2011; online:
http://www.wsj.com/articles/SB10001424052748703833204576114712441122894 [Stand: 13.02.2016].
38 Vgl. Perthes (wie Anm. 27), S. 122.
39 Unvergessen sind etwa die Bilder vom Kairoer Tahrir-Platz, als Diktator
Hosni Mubarak mit Peitschen und Macheten bewaffnete Männer auf
Pferden und Kamelen auf die friedlichen Demonstranten losließ.
40 UNHCR: Syrien: Flüchtlingszahl erreicht drei Millionen, 29.08.2016; online:
http://www.unhcr.de/home/artikel/1ecb68618fc8a0060f96495e311022f0/syrien-fluechtlingszahl-erreicht-drei-millionen.html [Stand: 14.02.2016].
41 Kristina Milz: Die Freiheit ist eine Krone, in: taz vom 16.01.2014, S. 5.