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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
bad gekommen, als alawitische Einheiten nach einem
Mordanschlag auf den Palast mehr als tausend sunnitische
Gefangene töteten.
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Das Gebaren der Diktatur wurde in
der syrischen Bevölkerung auch als alawitisch-sunnitischer
Vernichtungskrieg wahrgenommen. Tatsächlich hatte das
Regime keinerlei Interesse daran, etwas an dieser Wahr-
nehmung zu ändern – band es doch die Alawiten noch
enger an die Herrschaft. Das Haus Assad schürte damit
den Hass der Mehrheit auf die Minderheit. Die Alawiten
können daher nicht nur als Profiteure des Regimes gelten,
sondern auch als seine „Geiseln“.
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Doch nicht nur Alawi-
ten, sondern beispielsweise auch Christen, die angesichts
ihres Minderheitenstatus’ die säkulare Grundhaltung des
Regimes schätzten, stützten die syrische Herrschaft.
„Die Vorstufe zur Hölle“
Das Regime schuf eine Vielfalt an syrischen Lebensrealitä-
ten, die es heute oftmals so schwer macht, die „Wahrheit“
aus Narrativen von Syrerinnen und Syrern herauszufil-
tern, die verschiedener nicht sein könnten: „Das syrische
System konnte für manche Menschen ein erfülltes Leben
bereithalten, für andere aber nichts weniger als die Vorstufe
zur Hölle: Die einen sangen in Kirchenchören, turnten in
Sportvereinen, küssten ihre erste Liebe unter Kirschbäu-
men und im Schatten malerischer Burgen. Die anderen
verbrachten ihre halbe Jugend im Militärgefängnis von
Tadmor, weil ihr Bruder oder Vater bei den Muslimbrü-
dern war“
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, beschreibt Nahost-Experte Daniel Gerlach
diese Schizophrenie syrischer Lebenswirklichkeit. Präsident
Hafiz al-Assad hatte einerseits auf blutigeWeise seine Macht
gestärkt, sich andererseits die Loyalität wichtiger Teile der
Bevölkerung gesichert. Seine Herrschaft blieb bis zu seinem
Tod unangefochten; die Familie an der Macht zu halten,
erwies sich jedoch als komplizierter als ursprünglich erhofft.
Hafiz al-Assads ältester Sohn Basil, ein charismatischer
Soldat, der sein Nachfolger werden sollte, kam 1994 bei
einem Autounfall in Damaskus ums Leben.
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Auch zwei
andere Söhne kamen nicht infrage: Maher, der jüngste,
hatte seinem Schwager bei einem Streit in den Bauch
geschossen und war deshalb öffentlich nicht tragbar, und
28 Abu Zarr (wie Anm. 20), S. 24.
29 So etwa die Deutung von Abu Zarr (wie Anm. 20), S. 21.
30 Daniel Gerlach: Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter
Assad, Bonn 2015, S. 10.
31 Vgl. hier und im Folgenden ein Kurzporträt des syrischen Diktators Bashar
al-Assad von Julia Jaki: Das große Missverständnis, in: Daniel Gerlach/
Christian H. Meier (Hg.): Der Nahe Osten in hundert Köpfen. Biografische
Skizzen zu Zeitgeschichte und Gegenwart, Bonn 2012, S. 72 f.
Majd, als Zweitältester eigentlich am Zug, kämpfte bereits
sein ganzes Leben mit psychischen Problemen. Als der Prä-
sident im Juni 2000 starb, war so der Zweitjüngste an der
Reihe: Bashar al-Assad. Um seine Herrschaft zu ermögli-
chen, musste eigens die syrische Verfassung geändert wer-
den: Das Mindestalter des Staatsoberhaupts wurde von
40 auf 34 Jahre gesenkt und Bashar al-Assad wurde mit
einem offiziellen Wahlergebnis von rund 97 Prozent zum
Präsidenten gewählt.
Der neue Präsident galt im Vergleich zu seinem Vater
als liberal; weder Politiker noch Militär, hatte er in Damas-
kus und London Medizin studiert und sich im
Western
Eye Hospital
zum Augenarzt ausbilden lassen. In dieser
Zeit lernte er auch seine spätere Ehefrau Asma Fauaz
al-Akhras kennen, eine gebürtige Britin und Finanz-
analystin, die einer wohlhabenden syrisch-sunnitischen
Familie entstammt. Bashar al-Assad hatte zudem bereits
1989 mit seinem Bruder Basil die
Syrian Computer Soci-
ety
zur Förderung der IT-Branche gegründet; er galt als
technisch begabt. Als Präsident konzentrierte er sich vor
diesem Hintergrund auf eine Modernisierung des Lan-
des, insbesondere auch in wirtschaftlicher Hinsicht: Die
Planwirtschaft aus Vaters Zeiten wich zügig marktwirt-
schaftlichen Prinzipien. Der neue Assad ermöglichte aus-
ländische Investitionen, ein privates Bankwesen und die
Etablierung der Börse; er stärkte die Privatwirtschaft, den
Handel und die Kommunikation mit dem Ausland.
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Die
Reformen zeigten auf dem Papier bald Erfolge: Trotz zur
Neige gehender Ölvorräte und der unter einer anhalten-
den Dürre leidenden Landwirtschaft wuchs die syrische
Wirtschaftskraft deutlich und das Pro-Kopf-Einkommen
stieg an. Auch sunnitische Unternehmer profitierten von
der neu aufgestellten Wirtschaft und standen dem Regime
loyaler als in der Vergangenheit gegenüber. Gleichzei-
tig ging mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung
jedoch ein massiver Anstieg der sozialen Ungleichheit im
Land einher: Es entwickelte sich zwar vorsichtig eine auf-
steigende Mittelschicht, doch privilegierte Einzelpersonen
profitierten am stärksten von der neuen ökonomischen
Offenheit. Gleichzeitig fiel es der ärmeren Bevölkerung,
insbesondere in den ländlichen Regionen, angesichts stei-
gender Preise immer schwerer, ihre Familien ausreichend
zu ernähren.
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Als Inbegriff der korrupten Vetternwirt-
32 Vgl. hier und im Folgenden: Perthes (wie Anm. 27), S. 124.
33 Was dies konkret für die Betroffenen bedeutete, beschreibt die ehemalige
ARD-Korrespondentin Kristin Helberg, die lange Jahre in Syrien lebte, in dem
Kapitel „Gewinner und Verlierer: Syriens sozialistische Planwirtschaft wird
zur (un)sozialen Marktwirtschaft“, in: Helberg (wie Anm. 24), S. 144–167.