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Syrien stirbt

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

bad gekommen, als alawitische Einheiten nach einem

Mordanschlag auf den Palast mehr als tausend sunnitische

Gefangene töteten. 

28

Das Gebaren der Diktatur wurde in

der syrischen Bevölkerung auch als alawitisch-sunnitischer

Vernichtungskrieg wahrgenommen. Tatsächlich hatte das

Regime keinerlei Interesse daran, etwas an dieser Wahr-

nehmung zu ändern – band es doch die Alawiten noch

enger an die Herrschaft. Das Haus Assad schürte damit

den Hass der Mehrheit auf die Minderheit. Die Alawiten

können daher nicht nur als Profiteure des Regimes gelten,

sondern auch als seine „Geiseln“. 

29

Doch nicht nur Alawi-

ten, sondern beispielsweise auch Christen, die angesichts

ihres Minderheitenstatus’ die säkulare Grundhaltung des

Regimes schätzten, stützten die syrische Herrschaft.

„Die Vorstufe zur Hölle“

Das Regime schuf eine Vielfalt an syrischen Lebensrealitä-

ten, die es heute oftmals so schwer macht, die „Wahrheit“

aus Narrativen von Syrerinnen und Syrern herauszufil-

tern, die verschiedener nicht sein könnten: „Das syrische

System konnte für manche Menschen ein erfülltes Leben

bereithalten, für andere aber nichts weniger als die Vorstufe

zur Hölle: Die einen sangen in Kirchenchören, turnten in

Sportvereinen, küssten ihre erste Liebe unter Kirschbäu-

men und im Schatten malerischer Burgen. Die anderen

verbrachten ihre halbe Jugend im Militärgefängnis von

Tadmor, weil ihr Bruder oder Vater bei den Muslimbrü-

dern war“ 

30

, beschreibt Nahost-Experte Daniel Gerlach

diese Schizophrenie syrischer Lebenswirklichkeit. Präsident

Hafiz al-Assad hatte einerseits auf blutigeWeise seine Macht

gestärkt, sich andererseits die Loyalität wichtiger Teile der

Bevölkerung gesichert. Seine Herrschaft blieb bis zu seinem

Tod unangefochten; die Familie an der Macht zu halten,

erwies sich jedoch als komplizierter als ursprünglich erhofft.

Hafiz al-Assads ältester Sohn Basil, ein charismatischer

Soldat, der sein Nachfolger werden sollte, kam 1994 bei

einem Autounfall in Damaskus ums Leben. 

31

Auch zwei

andere Söhne kamen nicht infrage: Maher, der jüngste,

hatte seinem Schwager bei einem Streit in den Bauch

geschossen und war deshalb öffentlich nicht tragbar, und

28 Abu Zarr (wie Anm. 20), S. 24.

29 So etwa die Deutung von Abu Zarr (wie Anm. 20), S. 21.

30 Daniel Gerlach: Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter

Assad, Bonn 2015, S. 10.

31 Vgl. hier und im Folgenden ein Kurzporträt des syrischen Diktators Bashar

al-Assad von Julia Jaki: Das große Missverständnis, in: Daniel Gerlach/

Christian H. Meier (Hg.): Der Nahe Osten in hundert Köpfen. Biografische

Skizzen zu Zeitgeschichte und Gegenwart, Bonn 2012, S. 72 f.

Majd, als Zweitältester eigentlich am Zug, kämpfte bereits

sein ganzes Leben mit psychischen Problemen. Als der Prä-

sident im Juni 2000 starb, war so der Zweitjüngste an der

Reihe: Bashar al-Assad. Um seine Herrschaft zu ermögli-

chen, musste eigens die syrische Verfassung geändert wer-

den: Das Mindestalter des Staatsoberhaupts wurde von

40 auf 34 Jahre gesenkt und Bashar al-Assad wurde mit

einem offiziellen Wahlergebnis von rund 97 Prozent zum

Präsidenten gewählt.

Der neue Präsident galt im Vergleich zu seinem Vater

als liberal; weder Politiker noch Militär, hatte er in Damas-

kus und London Medizin studiert und sich im

Western

Eye Hospital

zum Augenarzt ausbilden lassen. In dieser

Zeit lernte er auch seine spätere Ehefrau Asma Fauaz

al-Akhras kennen, eine gebürtige Britin und Finanz-

analystin, die einer wohlhabenden syrisch-sunnitischen

Familie entstammt. Bashar al-Assad hatte zudem bereits

1989 mit seinem Bruder Basil die

Syrian Computer Soci-

ety

zur Förderung der IT-Branche gegründet; er galt als

technisch begabt. Als Präsident konzentrierte er sich vor

diesem Hintergrund auf eine Modernisierung des Lan-

des, insbesondere auch in wirtschaftlicher Hinsicht: Die

Planwirtschaft aus Vaters Zeiten wich zügig marktwirt-

schaftlichen Prinzipien. Der neue Assad ermöglichte aus-

ländische Investitionen, ein privates Bankwesen und die

Etablierung der Börse; er stärkte die Privatwirtschaft, den

Handel und die Kommunikation mit dem Ausland. 

32

Die

Reformen zeigten auf dem Papier bald Erfolge: Trotz zur

Neige gehender Ölvorräte und der unter einer anhalten-

den Dürre leidenden Landwirtschaft wuchs die syrische

Wirtschaftskraft deutlich und das Pro-Kopf-Einkommen

stieg an. Auch sunnitische Unternehmer profitierten von

der neu aufgestellten Wirtschaft und standen dem Regime

loyaler als in der Vergangenheit gegenüber. Gleichzei-

tig ging mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung

jedoch ein massiver Anstieg der sozialen Ungleichheit im

Land einher: Es entwickelte sich zwar vorsichtig eine auf-

steigende Mittelschicht, doch privilegierte Einzelpersonen

profitierten am stärksten von der neuen ökonomischen

Offenheit. Gleichzeitig fiel es der ärmeren Bevölkerung,

insbesondere in den ländlichen Regionen, angesichts stei-

gender Preise immer schwerer, ihre Familien ausreichend

zu ernähren. 

33

Als Inbegriff der korrupten Vetternwirt-

32 Vgl. hier und im Folgenden: Perthes (wie Anm. 27), S. 124.

33 Was dies konkret für die Betroffenen bedeutete, beschreibt die ehemalige

ARD-Korrespondentin Kristin Helberg, die lange Jahre in Syrien lebte, in dem

Kapitel „Gewinner und Verlierer: Syriens sozialistische Planwirtschaft wird

zur (un)sozialen Marktwirtschaft“, in: Helberg (wie Anm. 24), S. 144–167.