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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
Das Sykes-Picot-Abkommen unterlag der Geheimhal-
tung, war doch den Arabern des Osmanischen Reichs in
einer Korrespondenz zwischen Hussein ibn Ali,
Sherif
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von
Mekka, und dem britischen Hochkommissar in Ägypten,
Henry McMahon, aus den Jahren 1915 und 1916 die
Unabhängigkeit versprochen worden, sofern diese gegen
den eigenen Herrscher – das Osmanische Reich – revol-
tierten. Im Vertrag von Sèvres im Jahr 1920 wurde die
Aufteilung des arabisch besiedelten Gebietes in einzelne
Staaten besiegelt, das Versprechen der Unabhängigkeit
damit auch offiziell gebrochen.
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Als Ergebnis des Gescha-
chers um globale Einflusssphären der Kolonialmächte
konnte sich ein Nationalbewusstsein im syrischen Staat
nur langsam herausbilden; Zugehörigkeitsgefühle zu ver-
schiedenen Stammesstrukturen über die neuen Länder-
grenzen hinaus blieben in der Bevölkerung dagegen lange
bestehen und existieren zum Teil bis heute.
Die Bevölkerung des jungen syrischen Staates wuchs
von 1,5 Millionen Menschen nach dem Ersten Weltkrieg
auf mittlerweile circa 22 Millionen.
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Rund 90 Prozent
der Syrerinnen und Syrer gelten heute als ethnische Ara-
ber.
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Die zweitgrößte ethnische Gruppe bilden die Kur-
den; viele von ihnen waren zwischen 1924 und 1938 aus
der Türkei geflohen, nachdem Aufstände gegen politische
und wirtschaftliche Diskriminierung vom türkischen
Militär blutig niedergeschlagen wurden. Noch immer
liegt der Schwerpunkt der kurdischen Siedlungsgebiete in
Syrien entlang der Grenze zur Türkei im Norden des Lan-
des, doch auch in den Großstädten Aleppo und Damaskus
haben sich im Laufe der Zeit aufgrund der hohen Arbeits-
11 Der Begriff bezeichnet allgemein Personen von besonderem Status in
der islamischen Gesellschaft, im besonderen aber die Nachkommen des
Propheten Mohammad und im engeren Sinne diejenigen, die ihre Ab-
stammung über seinen ältesten Enkel Hasan ableiten.
Sherif
wurde als
religiöser Titel geführt und durch das Tragen eines grünen Turbans ver-
deutlicht. Gottfried Hagen: „Scharif“, in: Ralf Elger und Friederike Stoll-
eis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur, München
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2008, S. 287.
12 Besonderes Konfliktpotential ergab sich aus einem weiteren Versprechen
Großbritanniens in der sogenannten „Balfour-Deklaration“ vom Novem-
ber 1917, die die Schaffung einer „Heimstätte für die Juden“ in Palästina
in Aussicht stellte. Palästina wurde weder Engländern noch Franzosen
zugesprochen, sondern unter internationale Verwaltung gestellt, bevor
Großbritannien das Völkerbundmandat übernahm und schließlich Jahr-
zehnte später der Staat Israel gegründet wurde.
13 Diese Zahl stammt aus dem Jahr 2011. Die enorme Anzahl der Toten und Ge-
flüchteten seit Ausbruch der Revolution sind daher nicht mit einberechnet.
Vgl. die Angabe des Auswärtigen Amtes:
http://www.auswaertiges-amt.
de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/
Syrien_node.html [Stand: 14.02.2016].
14 Vgl. auch im Folgenden: The World Factbook: Syria; online: https://www.
cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/sy.html [Stand:
13.02.2016].
losigkeit in den Bergregionen viele Kurden niedergelassen.
Auch die meisten armenischen Christen in Syrien stam-
men ursprünglich aus der Türkei, etwa drei Viertel von
ihnen leben in Aleppo, ungefähr zwanzig Prozent in und
um Damaskus. Turkmenen, Tscherkessen, Aramäer und
Assyrer sind weitere ethnische Minderheiten in Syrien.
Syrien, das Land, das derzeit die meisten Flüchtlinge
weltweit „produziert“, war jahrzehntelang nicht nur ein
vergleichsweise sicheres Aufnahmeland für kurdische und
armenische Flüchtlinge aus der Türkei. Auch aus anderen
Nachbarländern waren gewaltige Migrationsströme auf-
grund politischer Konflikte zu verzeichnen: 2002 hielten
sich in Syrien 476.000 palästinensische Flüchtlinge auf,
2009 zählte man etwa 200.000 Iraker, die dem Krieg in
ihrer Heimat entflohen waren. Auch Adnan A., der heute
in München lebt, ist der Sohn eines Flüchtlings: Sein
Vater ist Palästinenser. Aufgewachsen ist Adnan A. im
Flüchtlingslager Jarmuk, das im gleichnamigen, mehr als
zwei Quadratkilometer großen Viertel an der südlichen
Stadtgrenze von Damaskus liegt. Bis zum Jahr 2012 leb-
ten dort etwa 150.000 Menschen, nahezu ausschließlich
Palästinenser.
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Als das Haus der Familie in Jarmuk 2012
von einer Bombe zerstört wurde, verließen sie das Viertel
und zogen in eine Wohnung in einem anderen Stadtteil
von Damaskus. Die Belagerung durch Assad-Milizen und
das strategische Aushungern Jarmuks seit 2013 sowie das
Eindringen von IS-Kämpfern im Frühjahr 2015
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blieb
der Familie deshalb erspart. Das ändert nichts daran,
dass Adnan A., der Sunnit, für den IS, der sich als wahrer
Hüter des sunnitischen Glaubens aufspielt, nicht weniger
Verachtung übrig hat als für das syrische Regime.
Syrisches Glaubensspektrum
Etwa drei Viertel der syrischen Bevölkerung gehören wie
Adnan A. dem sunnitischen Islam an,
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wobei von ausge-
sprochen konservativenGlaubensauslegungen bis zu äußerst
liberalen Einstellungen alle Zwischenformen der Religiosi-
15 Da nach syrischem Recht die Staatsangehörigkeit des Vaters auf seine Kin-
der übergeht, werden auch in Syrien geborene Flüchtlingskinder als Paläs-
tinenser betrachtet. Das hat zur Folge, dass Adnan A. als „staatenlos“ gilt,
obwohl er Syrien in seinem ganzen Leben vor der Flucht nie verlassen hat.
16 Im April 2015 appellierte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon wegen der
Zustände in Jarmuk an die Weltöffentlichkeit, verglich das Stadtviertel
mit einem Todeslager und sprach von einer Katastrophe epischen Aus-
maßes. Etwa 16.000 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt im ehemali-
gen Flüchtlingslager eingeschlossen, darunter befanden sich 3.500 Kin-
der. Vgl. „UN-Chef bezeichnet Jarmuk als ‚tiefste Hölle’“, in: Zeit Online,
10.04.2015; online:
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/jarmuk-syrien-damaskus-palaestinenser-fluechtlinge [Stand: 14.02.2016].
17 Vgl. The World Factbook (wie Anm. 14).