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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
Ein Land im Strudel der Gewalt: Seit den friedlichen Demonstrationen im Frühjahr
2011 mussten hunderttausende Syrerinnen und Syrer ihr Leben lassen. Während
sich die internationale Gemeinschaft nicht auf einen Weg zum Frieden einigen
kann, sind Millionen Menschen innerhalb und außerhalb des Landes auf der Flucht.
Die einstigen Staatsgrenzen gelten längst nicht mehr: Im Osten des Landes wütet
der selbsternannte „Islamische Staat“, im Westen terrorisiert das Regime sein Volk
mit Folter und Fassbomben. Bashar al-Assad, der einstige Hoffnungsträger der Nation,
ist zu ihrem Totengräber geworden.
Hunderte Menschen winken und rufen. Sie haben Essen in
Tupper-Dosen und flaschenweise Wasser dabei. Kleinkin-
der auf den Schultern ihrer Väter strahlen die Fremden an,
die da mit ihren Kindern kommen.
Refugees Welcome
. Die
Bilder vom Münchner Hauptbahnhof sollten um die ganze
Welt gehen. Da stand er also, der Nahe Osten, so nah wie
nie. Unzählige gezeichnete Gesichter: matt, erschöpft, aber
auch gerührt und vorsichtig hoffnungsvoll. Sie gehörten zu
Männern, Frauen, Kindern, die in ihrer Heimat und auf
der langen Flucht schier Unvorstellbares erlitten haben.
Wie in einem Hollywood-Film suggerierten die Bilder
das Happy End nach einer Odyssee. 2015 beantragten
162.510 Syrerinnen und Syrer in Deutschland Asyl;
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und
in der Tat: Den allerwenigsten wird zumindest die Aner-
kennung als Flüchtling gemäß der Genfer Konvention
verwehrt bleiben.
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Sie erhalten schneller als andere Asyl-
1 Die Asylbewerber aus Syrien machten damit mehr als ein Drittel aller An-
tragsteller aus. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF):
Asylgeschäftsstatistik für den Monat Dezember 2015, S. 2; online: http://
www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201512-statistik-anlage-asyl-geschaeftsbericht.pdf;jsessionid=BEA
4F63CCE5CC583B38448D56C501FD6.1_cid368?__blob=publicationFile
[Stand: 12.02.2016]. Die Anzahl der gestellten Asylanträge gibt derzeit
nur bedingt Auskunft über die tatsächliche Anzahl der in Deutschland
Schutzsuchenden, da viele Menschen noch nicht registriert wurden und
bis dato keinen Asylantrag stellen konnten.
2 Die Gesamtschutzquote der BAMF-Entscheidungen für Syrerinnen und
Syrer lag im Jahr 2015 bei 96 Prozent. Vgl. Asylgeschäftsstatistik (wie
Anm. 1), S. 2. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen der Asyl- und
der Flüchtlingsanerkennung: Während Asyl in Deutschland einzig poli-
tisch Verfolgten gewährt wird, deren konkrete Verfolgung von Akteuren
ausgeht, die dem jeweiligen Herkunftsstaat zuzurechnen sind, wird für die
Anerkennung als Flüchtling auch die berechtigte Furcht vor Verfolgung
aus anderen Gründen wie ethnische Zugehörigkeit, Religion, Geschlecht,
Sexualität und andere anerkannt. Faktisch macht es für die Asylsuchen-
den jedoch keinen Unterschied, ob sie Asyl erhalten oder als Flüchtling
anerkannt werden: Beide Status generieren dieselben Rechte, wobei im-
plizit davon ausgegangen wird, dass Flüchtlinge in ihre Heimat zurück-
kehren, sobald sich die dort vorliegende Bedrohungssituation geändert
hat. Beide Gruppen erhalten aber zunächst eine dreijährige Aufent-
haltserlaubnis und nach Ablauf dieser Frist eine unbefristete Niederlas-
sungserlaubnis, sofern die Entscheidung vom Amt nicht widerrufen wird.
suchende Gewissheit über ihren Aufenthaltsstatus,
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besu-
chen vergleichsweise rasch Deutschkurse, dürfen arbeiten
oder zur Schule gehen. Als offensichtliche Kriegsflücht-
linge werden sie derzeit auch gesellschaftlich pauschal eher
akzeptiert als Schutzsuchende aus anderen Ländern.
„Heimat ist ein schwieriges Wort“
„Syrien (amtlich Arabische Republik Syrien), arabisch [...]
al-Dschumhūriyya al-’arabiyya as-sūriyya,
ist ein Staat in
Vorderasien und Teil des Maschrek. Syrien grenzt im Süden
an Israel und Jordanien, im Westen an den Libanon und
das Mittelmeer, im Norden an die Türkei und im Osten
an den Irak. [...] Mit rund 185.000 Quadratkilometern ist
Syrien ungefähr halb so groß wie Deutschland.“
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Dies sind die ersten Sätze, die der interessierte Deutsche
liest, wenn er auf der Internet-Plattform
Wikipedia
nach
3 Für Syrer galt in Deutschland seit November 2014 ein beschleunigtes
Asylverfahren. Sie mussten in der Regel nicht persönlich beim BAMF vor-
sprechen, um ihre Schutzgründe plausibel zu machen, sondern füllten ei-
nen schriftlichen Fragebogen aus. Im Dezember 2015 allerdings entschie-
den die Innenminister von Bund und Ländern, dass auch Asylbewerber aus
Syrien wieder persönlich zur Anhörung erscheinen müssen, was eine Ver-
zögerung der Verfahren mit sich bringt. Vgl. Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge: Entscheiderbrief 11/2014, S. 4; online:
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Entscheiderbrief/2014/entschei-
derbrief-11-2014.pdf?__blob=publicationFile [Stand: 12.02.2016]; „Je-
der Syrer muss zur Anhörung“, in:
sueddeutsche.de,01.01.2016; online:
http://www.sueddeutsche.de/politik/asylverfahren-jeder-syrer-muss-zur-anhoerung-1.2802998 [Stand: 14.02.2016].
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https://de.wikipedia.org/wiki/Syrien[Stand: 28.01.2016].
Bei der Interpretation von Statistiken spielt der Unterschied hingegen eine we-
sentliche Rolle, denn politisches Asyl wird nur einem Bruchteil der Antragstel-
ler gewährt, was nicht heißt, dass die Zahl der Menschen, die in Deutschland
bleiben dürfen, entsprechend gering ist: 2015 wurden nur 0,7 Prozent aller An-
träge im BAMF als „asylberechtigt“ entschieden, wohingegen 48,5 Prozent der
Antragsteller als Flüchtlinge anerkannt wurden. Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Januar 2016, S. 10; online: https://www.
bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.pdf?__blob=publicationFile [Stand:
12.02.2016]; vgl. auch Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Rechtsfolgen
der Entscheidung; online:
http://www.bamf.de/DE/Migration/AsylFluechtlinge/Asylverfahren/Rechtsfolgen/rechtsfolgennode.html [Stand: 12.02.2016].