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Syrien stirbt
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
wahrsten Sinne des Wortes mit dem Lineal gezogen. Die
syrischen Staatsgrenzen sind nicht historisch gewachsen,
sie entspringen einem Abkommen, das im November
1915 von dem französischen Diplomaten François Geor-
ges-Picot und dem Briten Mark Sykes ausgehandelt und
im Mai 1916 ratifiziert wurde. Darin wurde bereits das
Fell des Bären zerteilt, den es erst noch endgültig zu erle-
gen galt: Die Diplomaten teilten das Gebiet des im Ersten
Weltkrieg zerfallenden Osmanischen Reichs in koloniale
Einflusssphären auf. Syrien, davor ein Teil des arabischen
Ostens im osmanischen Vielvölkerstaat, wurde neben
der Südost-Türkei, dem Nordirak und dem Libanon
den geschickt verhandelnden Franzosen zugesprochen.
Die Staatsgrenzen innerhalb der eigenen Einflusszone
bestimmte die Kolonialmacht selbst. Man unterschied
zwischen tatsächlich besetzten Gebieten und „Protektora-
ten“.
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Der überwiegende Teil Syriens wurde zum franzö-
sischen Protektorat.
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Die Kolonialmächte sicherten sich auf diese Weise Privilegien und Ein-
fluss auf ein bestimmtes Territorium, ohne die formelle Herrschaft da-
rüber zu besitzen. Als „Protektorat“ (vom lat.
„protegere“
– schützen)
wird seit Ende des 19. Jahrhunderts ein teilsouveränes staatliches Ge-
biet bezeichnet, dessen Außen- und Verteidigungspolitik gemäß einem
völkerrechtlichen Vertrag einem anderen Staat obliegt. Vgl. Burkhard
Schöbener (Hg.): Völkerrecht: Lexikon zentraler Begriffe und Themen
(Grundbegriffe des Rechts), Heidelberg u.a. 2014, S. 420f.
Die historische Karte des Sykes-Picot-Abkommens
Abbildung: ullstein bild