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Von der Perestroika zur Katastroika
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
nachlässigt habe.
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Als Gorbatschow imMärz 1985 als neuer
Generalsekretär der KPdSU die Macht im Kreml übernom-
men hätte, sei die Sowjetunion zwar in einer schwierigen,
aber keineswegs dramatischen Lage gewesen. Ein Großteil
der Bevölkerung hätte sich das Leben im „real existieren-
den Sozialismus“ so eingerichtet, dass sie keinerlei Krisen-
situation empfunden hätte. Auch unter Gorbatschow hätte
die Sowjetunion, gestützt auf ihre mächtigen Sicherheits-,
Repressions- und Militärapparaten, weiter ein autoritär-
bevormundender Parteistaat mit einer wenig effizienten,
aber halbwegs funktionierenden Kommandowirtschaft
bleiben können. Allein Gorbatschow und sein Team hätten
ungelöste Erschöpfungsprobleme und entwicklungshem-
menden Ordnungsdefekte erkannt, deshalb den riskanten
Weg fundamentaler Reformen gewählt und damit letztlich
ungewollt politischen „Selbstmord“ begangen.
Statt sich um das operative Geschäft eines Staatsman-
nes zu kümmern, um ordnungszersetzenden Kräften ent-
gegenzutreten, Konflikte beizulegen und das Heft des
Handelns in den Händen zu behalten, habe Gorbatschow
in entscheidenden Momenten immer wieder gezaudert
und sich viel zu sehr seinen schönen Visionen hingege-
ben.
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Das „Neue Denken“ sei zum Selbstzweck verkom-
men und habe immer mehr die Funktion gehabt, Gor-
batschows fehlende politische Strategie für den von ihm
verkündeten politischen Aufbruch zu kaschieren. Erst die
sicherlich gut gemeinte, aber verfehlte Reformpolitik Gor-
batschows habe darum die Finalitätskrise und damit den
Zerfall des Sowjetimperiums heraufbeschworen.
Der „chinesische Weg“ als Alternative?
Durch den weitgehenden Verzicht auf Gewaltmittel (oder
deren zu späten Einsatz) und die öffentliche Kritik an den
Missständen sei der zuvor allmächtige Parteistaat derart
9 Vgl. zum Folgenden bes. Zubok (wie Anm. 7); Stephen Kotkin: Armaged-
don Averted. The Soviet Collapse, 1970–2000, Oxford 2001; ders.: Uncivil
Society. 1989 and the Implosion of the Communist Establishment, New
York 2010; Archie Brown: Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin
2009, S. 649f u. 796; ders.: Seven Years That Changed The World. Peres-
troika in Perspective, Oxford 2009; Jörg Baberowski: Kritik als Krise oder
warum die Sowjetunion trotzdem unterging, in: Thomas Mergel (Hg.):
Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen,
Frankfurt/Main, 2012, S. 177–196.
10 Vgl. dazu bes. Zubok (wie Anm. 7), S. 309–319 u. 330–335. Diese Deutung
findet sich in unterschiedlicher Konnotation auch schon in den Memoiren
sowohl von Gorbatschows Gefolgsleuten als auch von seinen Kritikern.
Vgl. z.B. Georgi Schachnasarow: Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gor-
batschows Berater, Bonn 1996; Alexander Jakowlev: Die Abgründe meines
Jahrhunderts. Eine Autobiographie, Leipzig 2003; Jegor Ligatschow: Wer
verriet die Sowjetunion, Berlin 2012; Nikolaj Ryschkow: Mein Chef Gor-
batschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs, Berlin 2013.
geschwächt worden, dass dieser – anders als in China –
nicht in der Lage gewesen sei, die Volkswirtschaft durch
die graduelle und vorsichtige Einführung markt- und
privatwirtschaftlicher Formen zu transformieren und so
erfolgreich in die globalen Kreisläufe zu integrieren. Der
„chinesische Weg“ einer ökonomischen Modernisierung
bei fortgesetzter autoritärer Kontrolle von oben hätte –
so spekulierte zuletzt besonders Jörg Baberowski – den
Bestand des Sowjetimperiums als Weltmacht oder zumin-
dest in reduzierter Form als Großmacht durchaus gewähr-
leisten können.
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Dieser kritische Blick auf das (angebliche) machtpoli-
tische Versagen Gorbatschows führt zurück in das turbu-
lente Jahr 1989. Im Juni hatte die Parteiführung in Peking
die mehr Freiheiten einfordernden Studenten mit Panzern
vom Platz des Himmlischen Friedens (dem Tian’anmen-
Platz) vertrieben, um mit einem Massaker, bei dem mehr
als 1.000 Menschen starben, den Allmachtanspruch der
Partei erneut durchzusetzen.
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Moskau kritisierte dieses
Vorgehen vehement. Die Genossen in Peking hätten auf
brutale Weise neue Argumente geliefert, um den Sozia-
lismus beschuldigen zu können, „inhuman und anti-
demokratisch zu sein“. Der Kreml mutmaßte sogar, die
„unerfreulichen“ Ereignisse in Peking stellten eine schwere
11 Baberowski (wie Anm. 9), S. 191.
12 Nina Bandelj (Hg.): Socialism Vanquished, Socialism Challenged, Eastern
Europe and China, 1989–2009, Oxford 2012; Louisa Lim: The People’s Re-
public of Amnesia. Tiananmen Revisited, New York 2014.
Michail Gorbatschow mit Deng Xiaoping bei einem Empfang in der „Großen
Halle des Volkes“ in Peking am 06.05.1989
Foto: ullstein bild – Reuters